Mittwoch, 25. März 2009

Hintergründe zum Amoklauf ...

... von Winnenden sowie zur Berichterstattung darüber vermitteln zwei Texte, die ich heute gefunden habe.
Zunächst die Historikerin Dagmar Ellerbrock mit einem historischen Vergleich in der Frankfurter Rundschau (die Dame ist schon mit Arbeiten zu "privatem Waffenrecht und kollektiver Waffenpflicht" aufgefallen). Wie zuvor schon bei Cora Stephan, so ist auch Ellerbrocks Artikel erfreulich unaufgeregt - und widerlegt (einmal mehr) die Behauptung, die wesentliche Ursache von Amokläufen sei in einem "zu laschen" Waffenrecht zu finden:
"[...]

Waffen in Deutschland: Ein nützliches Accessoire und ein unverzichtbarer Gegenstand seien Schusswaffen für die deutsche Jugend geworden, berichtete der Oberstaatsanwalt aus Hamm 1911 dem preußischen Innenminister. Namentlich halbwüchsige Burschen - so die Wahrnehmung seines Breslauer Kollegen - seien es, die sich in den Besitz von Feuerwaffen brächten.
Lehrlinge und Gesellen, Schüler und Studenten, sie alle investierten das erste Gehalt oder die mageren Groschen vom Zeitungsaustragen in eine Schusswaffe neuester Bauart. Browning Pistolen und moderne Revolver waren die begehrtesten Modelle. Bei sich trugen die Knaben diese Waffen nahezu überall: unterwegs in der Bahn und auf dem Fahrrad, samstags im Gasthaus oder auf der Kirmes, an der Arbeitsstelle, in der Kirche, auf dem Standesamt und natürlich auch im Hörsaal und im Klassenraum.

[...]

Das ist bemerkenswert, rückt es doch die dieser Tage diskutierten Zahlen und Zusammenhänge in ein neues Licht. 15 Waffen habe der Vater des Amokschützen Tim K. besessen und mehrere tausend Schuss Munition - eine Armierung, die wohl von jeder beliebigen deutschen Schulklasse am Vorabend des Ersten Weltkrieges mit Leichtigkeit überboten worden wäre.

[...]

Zentral ist indes, dass trotz der enormen Präsenz von Schusswaffen keine Amokläufe überliefert sind. Weder an Schulen noch anderswo.

Eine Ausnahme war der Amoklauf des Ernst Wagner im September 1913 im württembergischen Mühlhausen. Der Lehrer hatte zunächst seine Familie in Degerloch ermordet und danach in Mühlhausen zwölf Menschen erschossen. Die Öffentlichkeit reagierte entsetzt und betroffen. Sie beschreibt Wagner als das, was er war: ein Massenmörder.
Eine Schreckenstat habe der Lehrer aus Degerloch begangen, ein blutiges Verbrechen, das lediglich durch Wagners Wahnsinn oder seinen verlorenen Gottesglauben zu erklären sei. Das Etikett Amok findet sich nicht. Es war den Zeitgenossen unbekannt. Die Fassungslosigkeit ähnelte heutigen Empfindungen und speiste sich auch aus der Singularität des Ereignisses. Die große mediale Aufmerksamkeit, die Wagners "tollwüthige Tat" hervorrief, bezeugt ebenso wie die Art der Beschreibungen, dass der schwäbische Amoklauf ein Einzelfall war.

So bleibt, dass Amokläufe ein relativ neuartiges Phänomen sind. Im 19. Jahrhundert gibt es trotz enorm hoher Verbreitung von Schusswaffen keine Überlieferung von Schulamokläufen. Das Muster, bewaffnet in eine Schule oder Universität zu gehen, dort gezielt, erbarmungslos und ohne situativen Anlass Mitschüler und Lehrer hinzurichten, ist ein neuartiges Skript. Im Verhaltensrepertoire des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts scheint es nicht verfügbar gewesen zu sein.

Die Waffentechnologie war spätestens seit den 1880er Jahren amoktauglich und die Verbreitung moderner Schusswaffen in der Risikogruppe post-adoleszenter Männer lag bei nahezu 100 Prozent. Auch Schüler des 19. Jahrhunderts waren hin und wieder frustriert, hatten Liebeskummer oder litten unter sozialen Akzeptanzproblemen. Trotzdem war das uns heute so vertraute Phänomen des school-shootings unbekannt.
Erklären lässt sich dies nur mit der Un-Denkbarkeit dieses Verhaltensmusters. Schießereien auf dem Schulhof waren denkbar und wurden ebenso praktiziert wie auf der Straße oder in der häuslichen Wohnung. Geplante Amokläufe dagegen lagen nicht innerhalb des praktizierten Verhaltensrepertoires. Amokläufe waren nicht präsent, weder im Handeln noch im Reden oder Denken.

Das hat sich dramatisch geändert. Amokläufe sind im 21. Jahrhundert nicht mehr aus dem potenziellen Verhaltensrepertoire wegzudenken.

[...]

In diesem Kreislauf spielen die Medien eine wichtige, vielleicht die zentrale Rolle. Sie bieten die Plattform, sie produzieren die Bilder, die den Amoklauf im öffentlichen Gedächtnis einbrennen, ihn zum Skandal und den Schützen unsterblich machen. Wenn dies so ist, werden sich Amokläufe zukünftig häufen, professionalisieren und weiter brutalisieren - Verschärfungen des Waffenrechts, Schulpsychologen und Gewaltdiskurs bieten nur einen löchrigen Schutz gegen diese perfide Logik.

[...]"
Mit anderen Worten: Im frühen 20. Jahrhundert hat man sich vielleicht duelliert, ist aber nicht Amok gelaufen, obwohl die tieferliegenden Gründe für solche Taten auch damals vorhanden waren.
Zwar sind Ellerbrocks abschließende Ausführungen über den vermeintlichen Segen des restriktiven deutschen Waffenrechts mit Skepsis zu betrachten - so bleibt etwa die Bedeutung des Versailler Vertrages und seiner Folgen für das erste deutsche Waffengesetz von 1928 unerwähnt -, dennoch ist ihr klar:
"[...]

Im Falle von Amokgewalt scheint das altbewährte Rezept [des restriktiven Waffenrechts, Anm. K.] jedoch paradoxe Wirkung zu entfalten. Die Skandalisierung wird nicht mehr benötigt, um Politiker dazu zu bewegen, waffenrechtliche Nachbesserungen vorzunehmen, polizeiliche Ausbildung zu optimieren und Notfallpläne zu entwickeln - der Konsens für diese Maßnahmen ist so groß, dass er auch ohne mediales Dauerfeuer wirksam würde.
Gleichzeitig aber produziert das unerschöpfliche und unreflektierte mediale Interesse eine Perpetuierung des Amoklaufs und eine ungewollte Heroisierung der Täter. Darin liegt bereits die neue Saat. Vorbilder werden geschaffen und medial um die ganze Welt geschickt. Hinsehen bedeutet in diesem Fall abschalten. Wer den Amoklauf von morgen verhindern will, muss die maßlose Dokumentation darüber heute unterlassen."

Mit den (Fehl-)Funktionen der Medien in unserer Gesellschaft setzt sich der Interviewband "Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung" auseinander, den Arne Hoffmann in Eigentümlich Frei rezensiert:
"[...]

Von 1996 bis 2006 hat sich das Vorkommen des Wortes „Skandal“ in der deutschen Presse fast verdoppelt. Das ist aus mehreren Gründen bemerkenswert, wie die Herausgeber des Buches „Skandal!“ in ihrem ausführlichen Vorwort erläutern: Als „Skandal“ bezeichnete Vorkommnisse stärken gesellschaftliche Tabus und Normen, aber auch die Macht derjenigen Medien, die dieses Etikett wählen. Gleichzeitig lasse sich der Skandal paradoxerweise als „journalistischer Betriebsunfall“ verstehen, denn das Bemühen um Objektivität und Differenziertheit trete hinter die Aufregung zurück. Während sich Journalisten mit dem vermuteten „gesunden Volksempfinden“ verbinden, werden Individuen geopfert: Für die Menschen, die von der Empörungswelle erfasst werden, endet auch ein im öffentlichen Bewusstsein längst verschwundener Skandal nie. Sie bleiben oft ein Leben lang gezeichnet. [...] Dabei könne im Zeitalter der neuen Medien jeder zum Objekt kollektiver Empörung werden. Zugleich sei es nur logisch, dass gerade infolge eines Verschwindens politischer Gegensätze der Skandal als offenbar mangelnde Integrität Einzelner eine Hochphase erlebe.

[...]"
Besonders interessant finde ich, daß dort auch der Modesoziologe Ulrich Beck befragt worden ist. An Beck habe ich dieser Tage oft denken müssen, ist die derzeitige Lage doch eine Bewährungsprobe dafür, inwieweit die Deutschen im allgemeinen und die Eliten im besonderen dazu fähig sind, mit der Risikogesellschaft, in der wir leben, umzugehen. Der Begriff Risikogesellschaft wurde maßgeblich von Beck geprägt. Dazu gehört auch die folgende Einschätzung:
"Als bedrohlich wahrgenommen werden nicht die abstrakten Risiken selber, sondern ihre konkrete Thematisierung durch die Massenmedien. Dies führt dazu, dass „Wirklichkeit [...] nach einem Schematismus von Sicherheit und Gefahr kognitiv strukturiert und wahrgenommen wird“."
Seit den 1980er Jahren hat das Thema Risikogesellschaft eine weite Verbreitung auch in anderen akademischen Disziplinen erfahren. Vor fünf Jahren durfte ich selbst für einige Monate an einem entsprechenden Projekt mitarbeiten, das neben Sozialwissenschaftlern Juristen und Psychologen zusammengeführt hat. Die Ergebnisse waren ernüchternd - und für mich das Ende aller einfachen Gewißheiten. So mußten z.B. die Psychologen zugeben, daß es nicht möglich sei, mit ihren Methoden und Verfahren einigermaßen sichere Prognosen über das zukünftige Verhalten von Menschen abzugeben. (Soviel zum Sinn von "Psychotests" für Waffenbesitzer.) Die Juristen mußten folglich lernen, daß die angestrebte Steuerungswirkung von Gesetzen - auch aufgrund der gesellschaftlichen Komplexität - nur sehr schwer, wenn überhaupt, zu realisieren ist.

Vor diesen Konsequenzen drücken sich Politik und Medien, wie wir gerade erleben, herum. Anstatt der harten Realität ins Auge zu sehen und einzugestehen, daß wir von zahllosen, kaum reglementierbaren Risiken umgeben sind - neben Amokläufern auch Naturkatastrophen, Unfälle im Straßen- und Flugverkehr, Terroranschläge, Kleinkriminalität, Unfälle im Haushalt u.v.a.m. -, wird dem Volk suggeriert, die Politik wäre handlungsfähig und bräuchte nur an ein paar kleinen Schräubchen zu drehen, um ewigen Frieden und Sicherheit herbeizuführen. Da das aber nicht funktioniert (und auch nicht funktionieren kann), muß ein Popanz aufgebaut werden, dem man die Schuld dafür zuschieben kann. Im Augenblick ist das die angeblich so mächtige "Waffenlobby" (komisch, ich kann sie gar nicht wahrnehmen), die sich gegen vermeintlich "sinnvolle" und vor allem "zielführende" Gesetzesänderungen stemmt. So kann von der eigenen Inkompetenz und Hilflosigkeit abgelenkt und eine Handlungsfähigkeit vorgegaukelt werden, die überhaupt nicht existiert.

Das Leben ist lebensgefährlich - daran können weder Gesetzgeber noch Polizei oder Medien etwas ändern. Das mag für einige bedauerlich sein, für mich ist es ein Trost, werden doch so die Grenzen der menschlichen Machbarkeit aufgezeigt. Ein Paradies erwartet uns erst in einer anderen Welt.


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