Dienstag, 6. Januar 2009

Terrorismus vor 120 Jahren


Im Rahmen meiner kleinen Orlando-Figes-Reihe (vgl. bereits hier und hier) folgt heute ein Abschnitt aus seinem Buch "Die Tragödie eines Volkes", worin er sich mit dem blutigen Terror durch die russischen Revolutionäre während der letzten Jahrzehnte des Zarenreiches beschäftigt (S. 150 f.):
"Die Rückkehr zu den Methoden der Jakobiner bedeutete jedoch, daß die Narodniki wie ihre Vorläufer gezwungen waren, sich in einem hoffnungslosen Krieg gegen den zaristischen Polizeistaat zu engagieren. Es begann ein Teufelskreis von wachsender Unterdrückung durch die Polizei und Gegenterror durch die Narodniki. Der Wendepunkt kam 1878, als Vera Sassulitsch, die zu den Anführern von "Land und Freiheit" gehörte, auf General F. F. Trepow, den Gouverneur von St. Petersburg schoß und ihn verwundete. Die Tat war eine Vergeltungsmaßnahme für seinen Befehl, einen studentischen Häftling auszupeitschen, der sich - in einer typischen Trotzgeste - geweigert hatte, seinen Hut in Anwesenheit des Gouverneurs abzunehmen. Sassulitsch wurde von der demokratischen Intelligenzija als Märtyrerin für die Gerechtigkeit gefeiert und von einem liberalen Gericht freigesprochen. Das war das Signal für eine Terrorwelle, die das Ziel verfolgte, die Autokratie zu untergraben und zu politischen Konzessionen zu zwingen. Zwei Provinzgouverneure wurden getötet. Sechs Attentate auf den Zaren mißlangen, darunter ein Bombenattentat auf den kaiserlichen Zug und eine riesige Explosion im Winterpalais. Schließlich, am 1. März 1881, als Alexander II. in seinem Wagen durch St. Petersburg fuhr, wurde er durch eine Bombe getötet.

Die verbreitete Empörung selbst unter Revolutionären über diese Terrorwelle führte zu einer Spaltung von "Land und Freiheit". Der eine Zweig nannte sich "Volkswille" [...], übernahm die Ideale Tkatschows und blieb der Taktik des Terrorismus treu, die zu einer gewaltsamen Machtergreifung führen sollte. 1879 gebildet, verübte diese Gruppe den Mord am Zaren. Viele ihrer Anführer wurden später bei den auf das Attentat folgenden Unterdrückungsmaßnahmen verhaftet - und mehrere hingerichtet. Doch die Terrorkampagne, die sie ausgelöst hatten, wurde von mehreren kleineren Gruppen in den achtziger Jahren weitergeführt. Zu einer gehörte Lenins älterer Bruder, Alexander Uljanow, der nach einem mißglückten Mordanschlag auf Alexander III. am sechsten Jahrestag der Ermordung von Alexander II. teilgenommen hatte und später hingerichtet wurde. Das angebliche Ziel der Kampagne war, den Staat zu destabilisieren und den Funken für eine Volkserhebung zu legen. Doch sie degenerierte bald - wie jeder Terror - zu Gewalt um der Gewalt willen. Man schätzt, daß über 17000 Menschen in den letzten zwanzig Jahren des Zarenregimes von Terroristen getötet oder verwundet worden sind - mehr als fünfmal soviel wie in Nordirland in den 25 Jahren der "Unruhen". Manch Terroranschlag war wenig mehr als bloße kriminelle Gewalt. Alle revolutionären Parteien finanzierten sich zumindest teilweise durch Raubüberfälle (die sie euphemistisch "Exproprationen" nannten), vor allem auf Banken und Züge, und man konnte kaum verhindern, daß die Täter das Gestohlene selbst einsteckten. Das war schlimm genug für das moralische Klima der revolutionären Parteien. Aber es war nicht annähernd so schädlich wie der kumulative Effekt des jahrelangen Mordens, der Zynismus, Indifferenz und Abstumpfung gegenüber den Opfern ihrer Sache zur Folge hatte."


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