Mittwoch, 14. Januar 2009

Politische und kriminelle Gewalt


In seinem Buch "Die Tragödie eines Volkes" (aus dem ich hier schon drei kurze Auszüge veröffentlicht habe) beschreibt Orlando Figes die enge Verflechtung von ordinärer Gewaltkriminalität und politischem Extremismus in Rußland zwischen den Revolutionen von 1905 und 1917 (S. 203 f.). Das und der einen hohen Blutzoll fordernde Terrorismus sind hierzulande kaum bekannt, betrachtet man doch oftmals die Schriften der Anarchisten als folgenlose Sandkastenspiele und Dostojewskijs "Dämonen" (die Reaktion darauf) als rein intellektuelle Angelegenheit.
"Nicht alle Gewalt in den Städten war Ergebnis der wachsenden Militanz der Arbeiterbewegung. Es kam zu einer deutlichen Zunahme aller Arten von Gewalt, von Raubüberfällen und Morden bis zu Ausschreitungen und Vandalismus Betrunkener, weil Recht und Ordnung zusammenbrachen. Ja, da die Polizei sich von der Bühne zurückzog, trug die Bevölkerung noch zur Gewalt bei, indem sie Bürgerwehren bildete und Kriminelle auf der Straße lynchte. Täglich berichtete die Presse Dutzende solcher Fälle von „Selbstjustiz“ […], neben Raub und Mord. Der Mob trieb sich auf den Straßen herum und verprügelte Studenten und unbeteiligte Passanten. Es gab Judenpogrome. Kurz, das ganze Land schien in einer in den Abgrund führenden Spirale der Gewalt und Anarchie gefangen. Wie der Konsul der USA in Batumi berichtete:

„[Rußland] ist durchtränkt von Aufruhr und riecht nach Revolution, Rassenhaß und Streit, Mord, Brandstiftung, Raub, Diebstahl und Verbrechen aller Art ... Soweit zu sehen ist, sind wir schon weit auf dem Weg in totale Anarchie und soziales Chaos ... Eines der schlimmsten Zeichen ist, daß die Bevölkerung unter dieser langen Herrschaft von Anarchie und Verbrechen immer stärker abstumpft, die Nachricht von der Ermordung eines Bekannten oder Freundes wird von den meisten mit Gleichgültigkeit entgegengenommen, während Raubüberfälle als etwas völlig Normales angesehen werden.“

Weil sich viele Historiker vornehmlich mit der organisierten Arbeiterbewegung beschäftigen – und vom Sowjetmythos von den bewaffneten Arbeitern auf den Barrikaden verführt sind –, ist die Rolle dieser alltäglichen kriminellen Gewalt in der revolutionären Masse entweder ignoriert, oder, noch irreführender, mit der Gewalt des industriellen Kriegs verwechselt worden. Doch je genauer man die Masse auf der Straße betrachtet, desto schwieriger wird es, eindeutig zwischen organisierten Formen des Protests – den marschierenden Arbeitern mit Bannern und Liedern – und kriminelle Akten von Gewalt und Plünderung zu unterscheiden. Das eine konnte leicht in das andere umschlagen – und das kam auch oft vor. Es war nicht bloß eine Frage von „Hooligans“ oder Kriminellen, die sich den Arbeiterprotesten anschlossen oder das Chaos, das diese anrichteten, ausnutzten, um zu randalieren, Menschen anzufallen und zu plündern. Solche Übergriffe scheinen ein integraler Bestandteil der Arbeitermilitanz gewesen zu sein, ein Mittel, die Macht der plebejischen Masse geltend zu machen und die Symbole von Wohlstand und Privilegien zu zerstören.

Was die verängstigte Mittelschicht „Hooliganismus“ nannte – die Überfälle des Mobs auf die Wohlhabenden und auf Autoritätspersonen, die Plünderungen und der Vandalismus, die Prügeleien und Randale Betrunkener –, konnte genausogut der Kategorie „revolutionärer Akt“ zugeordnet werden. Und teilweise ist es auch das, was sie waren: Die revolutionäre Gewalt der Jahre 1905 – 1917 drückte sich genau in dieser Art Aktionen aus. Sie wurde von denselben Haßgefühlen gegenüber den Reichen und allen Autoritäten getrieben, vom selben Wunsch der Armen und Machtlosen, sich zu behaupten und die Straßen für sich zu beanspruchen. Aus der Sicht der Wohlhabenden gab es wenig Unterschied zwischen dem „groben“ und „rüden“ Verhalten der „Hooligans“ – ihrer anmaßenden Aufmachung, ihrer Trunkenheit und vulgären Sprache, ihrer „Unverschämtheit“ und „Zügellosigkeit“ – und dem Verhalten der revolutionären Menge.

Arbeiterproteste, und waren sie noch so gut organisiert, konnten bei der geringsten Provokation in Gewalt umschlagen. Dies sollte eines der größten Probleme für die revolutionären Parteien werden, besonders für die Bolschewiki, die die Massen für ihre politischen Zwecke benutzen wollten. Solche Gewalt war ein zweischneidiges Schwert und konnte eher zur Anarchie führen als zu kontrollierter revolutionärer Aktion. Das war die Lektion, die die Bolschewiki in den Juli- und Oktobertagen 1917 lernten – Ausbrüche von Gewalt, die weit entfernt waren vom sowjetischen Bild der heroisch-proletarischen Kraft."

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