Wir schreiben das Jahr 1942. Deutsche Truppen stehen tief auf dem Territorium der Sowjetunion. Ein junger Mann, vom Typ her Lebenskünstler und Kleinkrimineller, war in deutsche Gefangenschaft geraten und hat sich dort der Abwehr als Agent zur Verfügung gestellt. Bei der Infiltration in seine Heimatstadt wird er jedoch, zusammen mit einem Kollegen, erkannt, festgenommen und von den Organen des NKWD verhört. Anstatt auf deren Angebote für ein Doppelspiel einzugehen versucht er zu fliehen – und stirbt dabei. Dem leitenden NKWD-Offizier stellt sich nunmehr die Frage, wie er seine Pläne, mit dem deutschen Nachrichtendienst zu spielen, um die Hintermänner zu enttarnen, weiterverfolgen kann (Codename der Operation: Apostol). Dabei kommt er auf den Bruder des toten Agenten. Damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf.
Jener Mann ist das genaue Gegenteil seines Bruders: ein eher weicher, musischer Mensch, intellektueller Typ, Lehrer in einem kleinen Dorf, kinderlieb und frisch verheiratet. Kurzum: Er führt ein geradezu idyllisches Leben. Und mit dem Einbruch des Krieges und der Geheimdienstintrigen sollte sich das alles gründlich ändern. Die junge Familie wird schweren Prüfungen unterzogen und fast zerstört (man könnte insoweit an Hiob denken).
Es beginnt damit, daß er gegen seinen Willen dem NKWD beitreten und die Identität seines verblichenen Bruders annehmen muß. Zu diesem Zweck muß er sich – da Brillenträger – einer Augenoperation unterziehen. Problem: Der einzige Spezialist, der diese OP durchführen kann, sitzt im Gulag. Ergo muß er entlassen, zurück nach Moskau gebracht und wieder als Chefarzt eingesetzt werden. Kein Problem für den NKWD. Während der Rückfahrt erlebt der Zuschauer die erste von mehreren bedrückenden Szenen des Films: Der Wagen mit dem Ex-Gefangenen an Bord legt einen Zwischenstop in einem anderen Straflager ein, wo der begleitende NKWD-Mann seine Frau besucht, die dort inhaftiert ist. Dort sieht man den harten Burschen dann plötzlich weinen.
In diesem Stil geht es weiter. Erst wird einem Gefangenen als Lohn für seine Kooperation ein Freßpaket gegeben, doch fünf Minuten später bekommt er dann eine Kugel in den Kopf. Oder der leitende NKWD-Offizier wird wegen angeblicher Spionage und Erfolglosigkeit seiner Operation denunziert und von seinen eigenen Kollegen gefoltert. Seine alte Mutter, ebenfalls von der Folter zermürbt, bezichtigt ihren eigenen Sohn, ein deutscher Agent zu sein. Ja, so wird man sich die Realität im stalinistischen Sicherheitsapparat wohl vorstellen müssen; viele Quellen weisen in die gleiche Richtung.
Der junge Held des Films nimmt die vorgesehene Entwicklung. Er lernt seine Rolle als deutscher Agent, wird dann auch erfolgreich in die besetzten Gebiete geschleust und kann sich dort einleben. Doch um welchen Preis! Seiner Frau, die sich jetzt allein um ihren Adoptivsohn kümmern muß, ist gesagt worden, ihr Mann sei bei einem Verkehrsunfall umgekommen. Sie verlangt, die Leiche zu sehen und weiß hinfort, daß er noch lebt. Da sie sich nicht mit der amtlichen Version zufrieden gibt, wird sie in eine psychiatrische Klinik eingeliefert, gefesselt und unter Drogen gesetzt. Daran zerbricht sie fast. Und als ob das alles nicht schlimm genug gewesen wäre, muß sie auch noch die Vergewaltigungen des Chefarztes über sich ergehen lassen. Ihr Junge befindet sich derweil in einem Kinderheim, aus dem er aber immer wieder wegläuft.
Am Ende des Films, das im Iran spielt, gelingt es dem Helden zwar, den deutschen Agentenführer zu enttarnen (sein eigener Vater!), doch auch dieser Erfolg ist bitter erkauft. So muß er seinen „väterlichen Freund“ aus dem NKWD (der inzwischen wieder im Amt und Würden ist) mit dem Tode bedrohen, um so die Ausreise seiner Familie aus der UdSSR zu erzwingen, da er mit ihnen gemeinsam ein neues Leben beginnen will. Der Film läßt allerdings die Frage, ob es tatsächlich zu einer Familienzusammenführung kommt, offen.
„Apostol“ ist nicht nur ein äußerst spannender Spionagethriller, sondern darüber hinaus auch eine eindrucksvolle Darstellung des stalinistischen Systems. Wer heute Täter ist, kann morgen schon Opfer sein (und umgekehrt). Die Obrigkeit geht rücksichtslos über Leichen; Mitleid oder Fürsorge für die eigenen Leute sind unbekannt. Statt einer für die Betroffenen nachvollziehbaren (System-)Rationalität herrscht die pure Willkür. Ein derartiges, strukturell unfreundliches bis unmenschliches Umfeld zwingt dazu, selbst hart und rücksichtslos zu werden, nur um zu überleben. Folglich hilft es auch nicht weiter, oberflächlich zu moralisieren und die Welt in Gute und Böse einzuteilen, denn dort es gelingt kaum jemandem, seine „Unschuld“ zu bewahren. Man kann den ungeheuren Druck, die starke psychische Anspannung, unter der die Betroffenen - zusätzlich zu allen physischen Leiden - gestanden haben, förmlich spüren.
Der Film trägt auf seine Weise dazu bei, das Leben in der Sowjetunion der Stalin-Ära besser zu verstehen. Ich kann ihn nur wärmstens empfehlen.
Desweiteren ist bemerkenswert, daß „Apostol“ nicht in irgendeinem Samisdat-Studio entstanden ist, sondern vom offiziösen Ersten Kanal in Auftrag gegeben wurde (der auch den gestrigen Eurovisions-Wettbewerb veranstaltet hat). Damit gesellt sich diese Serie zu einer Reihe weiterer Filme, die in den letzten Jahren entstanden sind und den stalinistischen Terror kritisch aufgearbeitet haben. Das prominenteste Beispiel dafür ist wahrscheinlich die 2006 entstandene Verfilmung von Alexander Solschenizyns Buch „Der erste Kreis der Hölle“ (vgl. hier und hier); Auftraggeber war die staatliche Rundfunkanstalt WGTRK – im Kontext der russischen Gesellschaft also ebenfalls Mainstream. Bedauerlich ist nur, daß diese Tatsachen von manchen pseudoliberalen Volkspädagogen konsequent ignoriert werden, die statt dessen mit der Mär einer angeblichen Stalin-Renaissance im heutigen Rußland hausieren gehen.
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1 Kommentare:
großartiger film! solche aufrichtigkeit, fairness, offenheit zu den komplizierten verhältnissen während des 2. weltkrieges kann man in deutschen filmproduktionen gar nicht finden. seltsam, dass das ausgerechnet in russland möglich ist. ich dachte, die russen sind dazu gar nicht in der lage: wie ich mich geirrt habe!
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