Ein privater Blog rund um die Themenbereiche Waffen(-recht), Schießsport, Messer, Jagd, Outdoor. Sachliche Kommentare sind immer gern gesehen.
Die Beiträge über Rußland und Osteuropa werden jetzt in einem neuen Blog unter TAUROGGEN.BLOGSPOT.de weitergeführt.
Ein nur wenig bekanntes Kapitel aus der Geschichte des Zweiten Weltkrieges stellt der Historiker Günther Deschner in seiner Schrift „Bomben auf Baku“ vor. Es geht um nichts weniger als die 1939/40 entworfenen britisch-französischen Pläne für massive Angriffe auf die südliche Sowjetunion, namentlich die Kaukasusregion. Damit sollten zwei Ziele verfolgt werden. Zum einen ging es um ein Abschneiden der deutschen Rohstoffzufuhren (vor allem Erdöl und Erdölprodukte) aus der SU, zum anderen um die Fortsetzung jenes schon nach 1917 begonnenen „Kreuzzugs gegen den Bolschewismus“. Deschner stellt die alliierten Planungen völlig zu recht in den Kontext der Intervention der Westmächte während des russischen Bürgerkrieges (1918-1919) und zeigt so langfristige Kontinuitäten des politischen Denkens auf, die teilweise bis heute fortwirken.
Konkret waren zunächst Luftangriffe gegen Industriezentren im Kaukasus geplant. Diese sollten durch Geheimdienstoperationen ergänzt werden, mithilfe derer bewaffnete Aufstände unter der dort lebenden Bevölkerung ausgelöst werden sollten. Schließlich waren auch Vorstöße zu Lande geplant, für die allein französischerseits eine Streitmacht von 150.000 Mann – vollmotorisiert! – zur Verfügung stand. Ins Werk wurde davon jedoch nichts gesetzt, doch fehlten die modernen Kampfflugzeuge und mechanisierten Verbände im Frühjahr 1940 während des Kampfes um Frankreich. Im Ergebnis waren die Planungen also nichts als eine große Diversion – allerdings nicht vom Gegner, sondern von den alliierten Generalstäben durchgeführt.
Deschner zeigt auf, daß das Kriegsbündnis der Jahre 1941 bis 1945 keineswegs natürlich war und auch andere Konstellationen denkbar gewesen wären. Des weiteren wird deutlich, daß die europäischen Großmächte keineswegs alle so friedliebend waren, wie sie sich selbst in der Rückschau gerne sehen. Und – das macht den aktuellen Wert des Buches aus – es werden jene westlichen Denkmuster hinsichtlich Rußlands aufgezeigt, die auch heute noch sehr oft anzutreffen sind, trotz alle Beteuerungen des Gegenteils. Das führt zu einem weiteren, rein historischen Punkt: Da die Staatsführung der UdSSR von Deutschland über die Angriffspläne informiert worden war, baute sich bei ihr ein Mißtrauen gegenüber den Westmächten auf, das bis zum Kriegsende nicht abgebaut werden konnte. Ferner zeigt sich, daß um das Jahr 1940 herum von einem festgefügten völkerrechtlichen Verbot des Angriffskrieges keine Rede sein konnte.
Das Thema ist freilich nicht ganz neu und wurde bereits 1973 auch vom Spiegel aufgegriffen.
In seiner voluminösen, aber überaus lesenswerten Kulturgeschichte Rußlands, die 2002 unter dem Titel „Nataschas Tanz“ erschienen ist, hat sich der britische Historiker Orlando Figes auch mit der Bedeutung der Jagd im Zarenreich zur Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Vieles von dem, was er dort beschreibt, trifft m.E. in Rußland auch heute noch zu: Jagen (und Angeln) als zeitweiliger Abschied vom „normalen“ Leben und Hinwendung zur „ursprünglichen“ Natur und Lebensweise. (Hier hatte ich darüber schon etwas geschrieben.) Dies scheint mir doch ein signifikanter Unterschied zum deutschen Jagdverständnis zu sein, das gerne betont, wie wichtig die Jagd in unserer Kulturlandschaft ist.
Doch lassen wir Figes zu Wort kommen:
"[...]
Von allen ländlichen Vergnügungen kam die Jagd einer nationalen Institution am nächsten, denn sie vereinte den Adligen und den Leibeigenen als Sportskameraden und Landsleute. Das frühe 19. Jahrhundert war das goldene Zeitalter der Jagd, was wiederum damit zusammenhing, daß der Adel nach 1812 das „gute Leben auf dem Landsitz“ wiederentdeckte. Es gab Adlige, die ihre Laufbahn im Verwaltungsdienst aufgaben und sich aufs Land zurückzogen, um sich ganz der Jagd zu widmen. Der „Onkel“ der Rostows in „Krieg und Frieden“ ist ein typisches Beispiel:
„Warum treten Sie nicht in den Staatsdienst ein, Onkel?“ „Ich habe einmal gedient, habe es aber dann aufgegeben. Ich tauge nicht dazu, klare sache, und damit hopp! Habe mich in all den Kram niemals hineinfinden können. Das ist eure Sache, bei mir langt’s dazu nicht mit dem Verstand. Siehst du, mit der Jagd, da ist es etwas anderes […]“
Es gab zwei Arten der Jagd in Rußland: Die klassische Jagd mit Hundemeuten, die etwas sehr vornehmes war, und die einfache Art zu jagen, wie sie Turgenjew in seinen „Aufzeichnungen eines Jägers“ (1852) verewigt hat und bei der ein Mann, nur von seinem Hund und einem Leibeigenen begleitet, zu Fuß loszog.
Die klassische Jagd wurde im Stile eines militärischen Feldzugs durchgeführt, dauerte manchmal mehrere Wochen und umfaßte Hunderte von Reitern, riesige Hundemeuten und ein enormes Gefolge von Jagdknechten, die auf den Landsitzen der Adligen kampierten. Lew Ismailow, der Rjasaner Adelsmarschall, nahm 3000 Jäger und 2000 Jagdhunde mit auf seine „Feldzüge“. Baron Mengden hielt sich für die Jagd eine Einheit besonders guter Jagdknechte mit eigener scharlachroter Livree und speziellen Araberpferden. Wenn sie mit dem Baron an der Spitze aufbrachen, nahmen sie mehrere hundert mit Heu und Eicheln beladene Karren, eine Krankenstation auf Rädern für verwundete Hunde, eine fahrbare Küche und so viele Bedienstete mit, daß das Haus des Barons völlig verwaist war und seine Frau und Töchter nur mit einem Mundschenk und einem Pagen zurückblieben. Diese Art der Jagd war nur möglich, weil der Adel über ein riesiges Heer von Leibeigenen und nahezu sämtliche Ländereien verfügte – Bedingungen, die bis zur Befreiung der Leibeigenen im Jahr 1861 gültig blieben. Wie bei der englischen Jagd handelte es sich ernsthafte, steife Angelegenheit, bei der gesellschaftliche Hierarchien strikt eingehalten wurden und den Jagdknechten, wenn sie nicht ohnehin mit den Hunden liefen, eindeutig eine untergeordnete Rolle zukam.
Im Gegensatz dazu war Turgenjews Art der Jagd beinahe egalitär, und zwar auf eine ausgesprochen russische Weise. Wenn der Adlige mit seinem leibeigenen Gefährten auf die Jagd ging, ließ er die zivilisierte Welt seines Palastes hinter sich und betrat die Welt der Bauern. Dieser Sport schweißte Junker und Knecht zusammen. Sie kleideten sich ähnlich, teilten Essen und Trinken, wenn sie unterwegs anhielten, schliefen Seite an Seite in Bauernhütten und Scheunen, unterhielten sich, wie Turgenjew es in den „Aufzeichnungen“ schildert, in kameradschaftlichem Geist über das Leben und schlossen dadurch oft eine enge und dauerhafte Freundschaft. Das Ganze war mehr als nur die übliche sportliche Männerkumpanei. Was den Gutsbesitzer betraf, so war die Jagd für ihn eine ländliche Odyssee, eine Begegnung mit unentdecktem Bauernland, und es war beinahe nebensächlich, wie viele Vögel oder Tiere er dabei schoß. In der letzten, sehr poetischen Episode der „Aufzeichnungen“ faßt der Erzähler alle Freuden der Jagd zusammen und erwähnt den Sport selber dabei kaum. In dieser wundervollen Schilderung findet die innige Liebe des Jägers zum ländlichen Rußland und seiner wechselnden Schönheit im Laufe der verschiedenen Jahreszeiten ihren Ausdruck:
„Aber nun ein Morgen im Sommer, im Juli! Wer außer dem Jäger hat erfahren, was für eine Freude es ist, im Morgenrot durch die Büsche zu streifen? Als grünes Band legt sich die Spur Ihrer Füße auf das tauige, weiß schimmernde Gras. Sie biegen einen nassen Strauch auseinander – und schon umgibt Sie der aufgespeicherte warme Duft der Nacht; die Luft ist ganz durchtränkt mit der frischen Bitterkeit des Wermuts, mit dem Honig des Buchweizens und des Wiesenklees; in der Ferne steht wie eine Mauer der Eichenwald und glänzt und rötet sich in der Sonne; es ist noch kühl, aber man spürt schon die nahende Hitze. Man wird schwindlig im Kopf und ganz benommen vom Überfluß der Wohlgerüche. Der Buschwald nimmt kein Ende … Höchstens in der Ferne leuchtet hier und da das Gelb des reifenden Roggens und in schmalen Streifen das Rot des Buchweizens. Da knarrt ein Wagen; ein Bauer kommt im Schritt gefahren; er stellt sein Pferd beizeiten in den Schatten … Sie wechseln einen Gruß mit ihm und gehen weiter; hinter Ihnen erklingt das helle Klirren der Sense. Höher und höher steigt die Sonne. Rasch trocknet das Gras. Nun ist es schon sehr heiß geworden. Es vergeht eine Stunde, eine zweite … Der Himmel färbt sich am Rande dunkel; in stechender Glut brütet die unbewegte Luft.“
[...]" (Figes: Nataschas Tanz, Berlin 2011, S. 132 ff.)
Gestern ist der bereits am 22. März ergangene Beschluß des Bundesgerichtshofes im Revisionsverfahren gegen den Vater des Massenmörders von Winnenden veröffentlicht worden. Damit wurde das Urteil des erstinstanzlichen Landgerichts Stuttgart, was den Vater zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt hat, aufgehoben. Nunmehr muß vor dem LG Stuttgart eine Neuverhandlung stattfinden.
Der BGH-Beschluß hat in der Presse einen starken Widerhall gefunden. In Zeiten, in denen deutsche Politiker und Journalisten zuhauf und ungefragt ausländischen Staaten Lektionen in Sachen Rechtsstaatlichkeit erteilen, offenbart die vernichtende Kitik am BGH vor allem das gestörte, archaisch anmutende Rechtsverständnis der Kritiker. Exemplarisch mag hierfür ein Artikel in der Winnender Zeitung stehen. Zunächst wird die Bedeutung des Beschlusses relativiert und der BGH verunglimpft:
"Dass die Entscheidungspraxis der Revisionsgerichte „weitgehend unberechenbar“ sei, gilt vielen Juristen als Gemeinplatz."
Dann dürfen die "Opfer" - also nicht das Opfer des Fehlurteils, sondern die Hinterbliebenen der Opfer des Mörders - ihr Leid klagen:
"So bleiben die Opfer-Angehörigen weiter hineingedreht ins Räderwerk der Justiz, hineingepresst in die Paragrafenmühle, hängen fest in der Warteschleife – auf unabsehbare Zeit. Mag sein, dass all das „formaljuristisch“ seine Richtigkeit hat, sagt Jürgen Marx, der seine Tochter Selina am 11. März 2009 verloren hat - „emotional ist das für einen Laien absolut nicht nachzuvollziehen. Uns hat das Ganze getroffen wie ein Hammer“. [...] „Uns hat‘s echt die Füße weggezogen.“ Sicher, schon klar, alles geht seinen geordneten Gang, die Gerichte fällen ihre Entscheidungen, alles schön rechtsstaatlich – aber „die Opfer sind für die total uninteressant. Das interessiert die einen Scheiß, was wir denken und fühlen. Jetzt stehen wir da wie vor zwei Jahren. Nach zwei Jahren Aufbauarbeit ist wieder ein Fundament weggebrochen“."
Sonach hatte der Prozeß gegen den Vater vor allem psychologische Funktion. "Trauerarbeit" - wer wollte da dagegen sein? und dann tritt der unsensible Bundgerichtshof auf wie ein Elefant im Porzellanladen und beharrt auf der Einhaltung eines Minimums rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze. Frechheit - wo doch das "gesunde Volksempfinden" schon lange entschieden hat!
Diese Einlassungen zeigen einmal mehr, daß es in dem Strafprozeß eigentlich gar nicht um den Vater und dessen mögliches Fehlverhalten ging. Der Mann war und ist lediglich ein Sündenbock, der an Stelle seines toten Sohnes die Rolle des Haßobjektes spielen muß. Nur in dieser Logik wird verständlich, weshalb juristische Erwägungen einen so geringen Stellenwert in der Berichterstattung hatten.
Schließlich wird der Haß ausgeweitet. Nicht nur der Vater, auch sein Rechtsanwalt, der die teilweise erfolgreiche Revision durchgesetzt hat, wird von der Presse beschimpft:
"So gut Gorka sein Paragrafengeschäft versteht – die irritierend zynische „Spiel“- und „Glück“-Floskel passt zu der auffälligen Achtlosigkeit, mit der der Anwalt im ersten Amokprozess über die Befindlichkeiten, Verletzlichkeiten und Gefühle von Opfer-Eltern hinwegging."
Die Journaille meint also, daß die Aufgabe eines Strafverteidigers nicht in der Wahrnehmung der Interessen seines Mandanten, sondern in der besonderen Beachtung von Befindlichkeiten der Nebenkläger liege. Hier irrt Peter Schwarz von der Winnender Zeitung. In unserem Rechtssystem ist genau das nicht die Aufgabe eines Verteidigers, dafür haben die Nebenkläger ihre eigenen Anwälte.
Wiederum wird deutlich, daß der erste Prozeß in Stuttgart nichts anderes als ein abgekartetes Spiel war, ein - wie früher schon geschrieben - Schauprozeß, in dem der Angeklagte nur die Rolle des reuigen Sünders spielen sollte, der jedes vorgefertigte Geständnis unterschreibt. Daß es anders kam und RA Hubert Gorka erfreulicherweise auf einer effektiven Verteidigung bestand, beschwört nun den geballten Zorn der Amoklauf-Winnenden-Lobby und der ihr nahestehenden Medien herauf. Den von einem Festredner stammenden Satz, daß Verteidigung Kampf ist, nimmt man Gorka besonders übel.
Dabei ist der Beschluß des BGH zwar ein Erfolg, aber kein vollständiger Sieg der Revision. Dies wird von den - wie immer - oberflächlich recherchierenden Journalisten übersehen. Zwar hat der BGH das Urteil aufgrund eines schwerwiegenden Fehlers des LG hinsichtlich der Aussage einer Schlüsselzeugin aufgehoben. Doch die weiteren Rügen der Revision gegen die zahlreichen Mängel des ersten Verfahrens wurden vom BGH verworfen. Im weiteren Text gibt der Gerichtshof zudem Hinweise an das Landgericht, wie im zweiten Prozeß eine Verurteilung erreicht werden kann. Insbesondere die Randnummern 34 bis 36 sind m.E. problematisch, weil damit eine lange Kausalitätskette für Fahrlässigkeitshandlungen konstruiert wird, die über mehrere unabhängige Personen reicht.
Mithin war auch der BGH nur bedingt fähig, weiteres Licht die offenen (Rechts-) Fragen im Fall Winnenden zu bringen. Nur als kleiner Trost, vor allem für den Betroffenen, bleibt die Neuauflage des Verfahrens vor dem LG Stuttgart. Ob es dort diesmal fairer und rechtsstaatlicher zugehen wird als im ersten Prozeß mit seinen befangenheitsverdächtigen Schöffen und anderen Mißhelligkeiten?
Wenn zwei das gleiche tun, ist es noch lange nicht das selbe. Diese alte Einsicht bewahrheitet sich regelmäßig, wenn es um die Berichterstattung deutscher Medien über Rußland geht. Wohl kein deutscher Journalist käme auf die Idee, die Präsenz der U.S. Coast Guard in Alaska anzuzweifeln oder den Einsatz der Royal Canadian Mounted Police in den Nordwest-Territorien und Nunavut zu kritisieren. Neben konkreten technischen Aufgaben erfüllen diese Behörden in den dünnbesiedelten Nordgebieten der USA und Kanadas die allgemeinen Funktiones des Grenzschutzes und der Souveränitätskontrolle. Damit wird - im deutschen Fernsehen unwidersprochen - demonstriert, daß die besagten Territorien zum jeweiligen Staat gehören.
Doch mit Bezug auf die Rußländische Föderation ist alles anders - zumindest wenn man dem preisgekrönten Journalisten Dietmar Schumann glaubt, dessen aus dem Jahr 2005 stammende Reportage "Franz-Josef-Land - Auf verlorenem Posten" kürzlich vom ZDF wieder ausgestrahlt wurde. In diesem Film hat Schumann vorzüglich die Mängel der deutschen Rußlandreportagen dargestellt.
Das ZDF-Team hatte eine Reise auf einem Frachter gebucht, der einige Außenposten auf dem arktischen Franz-Josef-Land versorgt. Darunter waren auch zwei Grenzposten. Irgendeine Laus muß während der Reise über Schumanns Leber gelaufen sein, denn die Grenzschützer kommen im Film gar nicht gut weg. Sie seien das finstere Reich des Geheimdienstes usw. usf. Zuvor hatten sie ihm die Besichtigung eines Grenzpostens verwehrt, offenbar, weil er sich nicht angemeldet hatte. Darauf reagierte der brüskierte Journalist dann mit harschen Worten. Im Interview fragte er den Chef des Grenzpostens, ob seine Arbeit überhaupt sinnvoll sei und gegen welchen Feind die Grenzer Rußland im hohen Norden verteidigen würden. Dieselbe freche Frage hätte Schumann keinem Kanadier oder Amerikaner gestellt. Entsprechend genervt reagierte denn auch der rußländische Grenzoffizier, was Schumanns Wut noch weiter steigerte.
Dem deutschen Zuschauer wird damit ein furchteinflößendes Bild des rußländischen Grenzschutzes vermittelt. Doch dem ist nicht so. Russische Journalisten berichten regelmäßig von diesen Außenposten, allerdings haben sie sich vorher angemeldet und mit der zuständigen Presseabteilung abgestimmt. Wer die Spielregeln nicht einhält, darf sich über unfreundliche Reaktionen seiner Partner nicht wundern. Und in welcher deutschen Polizeidienststelle dürfte ein plötzlich auftauchendes Fernsehteam einfach so filmen? Wohl in keiner.
Der nördliche Seeweg von Europa nach Fernost.
Ein weiterer wichtiger Punkt in jeder deutschen Rußlandreportage sind Menschen, die in die Kamera sagen, wie schlimm die Regierung in Moskau doch sei. Diesen Part spielt in Schumanns Film die Besatzung einer Polarstation. Man habe die Finanzierung heruntergefahren und deshalb gehe im hohen Norden alles den Bach runter. Das ist teilweise zutreffend, jedoch bleibt im Film der Kontext, in dem die besagte Station steht, völlig unbeleuchtet. Das soll an dieser Stelle nachgeholt werden.
Beginnen wir mit einem Blick in die Geschichte. Die Erforschung der Arktis wurde in Rußland seit Beginn des 20. Jahrhunderts vorangetrieben. Zar und Sowjetregierung rüsteten Expeditionen aus, um das weithin unbekannte Gebiet zu erforschen und zu kartographieren. In den 1920er Jahren entstanden die ersten Polarstationen, welche ganzjährig besetzt waren und vor allem Wetterdaten sammelten. In den 1920er Jahren entstand der Wunsch, diese Region ökonomisch und verkehrstechnisch besser und systematischer zu erschließen. Damit Begann der Ausbau des Nördlichen Seeweges, der in Deutschland Nordostpassage genannt wird. Zahlreiche neue Stationen wurden an der Küste und auf Inseln errichtet, Eisbrecher und Häfen gebaut, Expeditionen wie etwa die mit der "Tscheljuskin" anno 1933/34 durchgeführt usw.
Zur Koordination diente die Hauptverwaltung Nördlicher Seeweg, deren erster Chef der bekannte Polarforscher Otto Schmidt war. Die Hauptverwaltung hatte umfassende wissenschaftliche, wirtschaftliche und verkehrstechnische Aufgaben in der sowjetischen Arktis wahrzunehmen. Neben der Forschung und der Wetter- und Eisbeobachtung waren dies die Erkundung von Rohstofflagerstätten, das Betreiben von Schiffahrtswegen, Koordination von Jagd und Fischerei etc. Dazu verfügte die Behörde nicht nur über die immer zahlreicheren Polarstationen, sondern auch über viele Schiffe, darunter fast alle sowjetischen Eisbrecher, und - mit Stand 1939 - über 150 Flugzeuge. Letztere wurden in einer eigenen Fluggesellschaft namens Awiaarktika zusammengefaßt, die später Teil von Aeroflot war. Ab 1953 wurde die Hauptverwaltung allerdings erheblich reduziert, viele Bereiche gingen an andere Behörden. Seit 1964 ist sie Teil der allgemeinen Schiffahrtsverwaltung. (Die Schiffahrt auf dem nördlichen Seeweg beschreibt dieser Dokumentarfilm aus dem Jahre 1984.)
Im Zuge der Umstrukturierung gingen die Polarstationen gingen an den Hydrometeorologischen Dienst. Zeitgleich wurde dem Wetterdienst auch das Arktis-Antarktis-Forschungsinstitut unterstellt. Obwohl beide Strukturen nunmehr zum Wetterdienst gehörten (und bis heute gehören), haben sie doch unterschiedliche Aufgaben. Die vom Forschungsinstitut verantworteten Polarstationen und -expeditionen dienen der wissenschaftlichen Grundlagenforschung in der Arktis. Insoweit ist besonders an die bisher 39 Driftstationen über dem Nordpol zu denken. Die erste unter dem Namen Nordpol-1 fand 1937 statt und ist weltberühmt geworden (2009 wurde sie in der Dokumentation "Rote Arktis" behandelt). Seit dem 30.09.2011 ist die Station Nordpol-39 mit 16 Mann Besatzung auf einer Eisscholle auf dem Arktischen Ozean unterwegs. Die von dort alle sechs Stunden übermittelten Daten können hier eingesehen werden.
Feste Forschungsstationen im sowjetischen bzw. rußländischen Polargebiet.
Die übrigen, "normalen" Stationen im gesamten sowjetischen Polargebiet hatten vornehmlich Aufgaben der Wetter- und Eisbeobachtung zu erfüllen. Damit halfen sie dabei, die Schiffahrt auf dem nördlichen Seeweg abzusichern. In Hochzeiten unterhielt der Wetterdienst der UdSSR sage und schreibe 105 Beobachtungsstationen in dieser Region (siehe Karte 3). Nach 1991 kam dann der Niedergang. Der nördliche Seeweg wurde immer weniger in Anspruch genommen, weil der Transportbedarf zurückging. Es gab Jahre, in denen befuhr ihn kein einziges Schiff auf voller Länge. Zugleich steckte die RF der Jelzin-Ära in einer Dauerkrise. Angestellte in der Arktis waren zu Sowjetzeiten mit überdurchschnittlich hohen Gehältern angelockt worden, doch nun bezahlte der Staat sie nur noch mit großer Verzögerung oder manchmal auch gar nicht. Mithin suchten sich viele Mitarbeiter andere Arbeitsstellen und verließen die Arktis. Das dichte Stationsnetz wurde ausgedünnt und ist auf etwa ein Drittel seiner früheren Größe geschrumpft. Sie gehören heute zu den nördlichen, jakutischen und tschuchotkischen Abteilungen des Hydrometeorologischen Dienstes.
Doch seit etwa 2005 zeichnet sich Besserung ab, was vor allem auf die wirtschaftliche Gesundung Rußlands zurückzuführen ist. Nach dreizehnjähriger Pause wurden wieder Driftexpeditionen ausgesandt und auch die übrigen Polarstationen werden wieder hochgefahren. Mehrere Schiffskonvois (auch deutscher Reedereien) absolvierten den Nördlichen Seeweg in voller Länge und konnten so die Reisezeit zwischen Ostasien und Europa reduzieren. Durch das teilweise Schmlezen des Polareises wird auch die Förderung von Rohstoffen in der rußländischen Polarregion vereinfacht. Mithin ist eine Zunahme der ökonomischen Nutzung der Arktis im allgemeinen und des Verkehrs auf dem Nördlichen Seeweg im besonderen zu erwarten. Ob man im Zeitalter der Wetter- und Eisbeobachtung durch Flugzeuge und Satelliten allerdings noch ein (teures) Netz von über hundert Polarstationen wie vor 40 Jahren braucht, ist zweifelhaft.
Áuf diese Entwicklung hat die RF im Jahr 2008 durch die Verabschiedung einer Arktisstrategie reagiert. (Analoge Aktivitäten werden übrigens auch in Kanada entfaltet.) Leider findet dies in den deutschen Medien kaum eine zutreffende Darstellung. Anstatt völkerrechtliche und andere Hintergünde aufzuzeigen, begnügt man sich oft mit ironisch-ängstlichen Kommentaren über den "russischen Griff nach der Arktis". Eine erfreuliche Ausnahme ist das Buch "Die Arktis - Ressourcen, Interessen und Probleme", 2010 von der Hanns-Seidel-Stiftung herausgegeben.
In jedem Fall wird man in den nächsten Jahren noch einiges über die Polaraktivitäten Rußlands hören. Wie schon im 20. Jahrhundert, so wird man dort auch im 21. in der Polarschiffahrt (Eisbrecher, eisgängige Frachter und Tanker) und Polarfliegerei führend sein. Dasselbe trifft auf die wissenschaftliche Erforschung zu. Und an den Küsten des Nordpolarmeers werden auch weiterhin Grenzposten exisitieren, so wie die RCMP den Norden Kanadas und die norwegische Polizei Spitzbergen bewacht, auch wenn ein schlecht informierter deutscher Journalist dies für überflüssig hält.
Die "Wolga", ein Patrouillen-Eisbrecher der Küstenwache des Grenzschutzes, vor Kamtschatka.
Über den Fortgang der Militärreform im Personalbereich informierte jüngst RIA Nowosti in einem Artikel:
"[...]
Russische Offiziere können demnächst freiwillig ihre Dienstzeit um fünf Jahre verlängern. Das Verteidigungsministerium hat offenbar den Umfang seines Personalkahlschlags eingesehen und einen Gesetzentwurf zur Anhebung des Pensionsalters vorbereitet. Die Streitkräfte brauchen dringend erfahrene Führungskräfte, die wegen der Reformen in den vergangenen Jahren massenweise aus der Armee ausgeschieden waren.
Neue Altersgrenzen
Die Altersgrenzen für russische Offiziere sind unmittelbar mit ihrem Rang verbunden. Laut dem neuen Gesetzentwurf könnten bzw. dürften Oberstleutnante und Fregattenkapitäne höchstens 50 Jahre alt sein, Oberste und Kapitäne zur See 55 Jahre, Generalmajore, Konteradmiräle, Generalleutnante und Vizeadmiräle 60 Jahre, Marschälle, Armeegeneräle, Flotteadmiräle, Generaloberste und Admiräle 65 Jahre, erläuterte der Pressedienst des Verteidigungsministeriums.
Im Vergleich zur aktuellen Richtlinie, die im Sinne des Gesetzes Nr. 53 vom Jahr 1998 gilt, soll die Altersgrenze um fünf Jahre erhöht werden. Dabei wurde hervorgehoben, dass sie mit den aktuellen Altersgrenzen für Beamte und Mitarbeiter des Innenministeriums übereinstimmen würden. Die Idee des neuen Gesetzentwurfs bestehe darin, „dass Militärs mit Kriegs- und Verwaltungserfahrungen weiter ihren Dienst leisten“, heißt es in der Pressemitteilung des Verteidigungsministeriums. Diese These muss aber ausführlich dargestellt werden.
Umfassende „Optimierung“
Auf den ersten Blick ist die neue Initiative der Militärbehörde nicht nur alt, sondern auch inkonsequent, wenn man die Reformen der letzten Jahre bedenkt.
Die radikale Kürzung des Offiziersbestands im Sinne der Reform von Serdjukow (Verteidigungsminister) und Makarow (Generalstabschef) von 365 000 im Herbst 2009 auf 150 000 war durch mehrere Umstände bedingt. Unter anderem musste das Missverhältnis zwischen der enorm großen Zahl von hochrangigen Offizieren einerseits und dem Mangel an Unteroffizieren andererseits aufgehoben werden.
In diesem Sinne war das Gesetz Nr. 53 hilfreich, das jetzt aber novelliert werden soll. Derzeit werden die Verträge der Oberoffiziere aufgelöst, sobald diese eine gewisse Altersgrenze erreichen, es sei denn der Oberste Befehlshaber, sprich Präsident, höchstpersönlich verfügt über ihre Verlängerung.
Von dieser Reform waren viele hochrangige Kritiker, darunter im Generalstab, betroffen. Es kam sogar vor, dass nicht nur einzelne Personen oder Abteilungen gehen mussten, sondern ganze Verwaltungen im Zentralapparat, die ihren jungen und unerfahrenen Nachfolgern einen Berg von Arbeit hinterließen.
Auch viele Militärforscher wurden wegreformiert, weshalb immer weniger Experten an der Beschlussfassung des Verteidigungsministeriums beteiligt sind. Besonders schwere Folgen hatte die Reform für die Stabsstrukturen, wo es zu viele Oberoffiziere gab.
Ein Mangel der Reform bestand darin, dass die Kürzungspläne unpräzise waren und einzelne Abteilungen und Dienste einfach wegrationalisiert wurden, obwohl sie weiter gebraucht wurden. Auf diese Weise mussten nicht nur hochrangige und nutzlose „Statthalter“, sondern auch viele Profis den Platz räumen, die dennoch sehr gefragt waren.
Manchmal kehren sie zurück
Der Generalstab scheint diese Misere jedoch begriffen zu haben. Zunächst wurden die Offiziersstellen im Februar des Vorjahres um 70 000 erhöht. Damals wurde das mit dem Bedarf der ins Leben gerufenen Weltraumabwehrtruppen begründet.
Wozu aber die neue Waffengattung eine so große Zahl von Offizieren brauchte, so dass die Zahl der Offiziere in der gesamten Armee plötzlich um die Hälfte anstieg, wurde nicht erklärt. Dass wichtige Experten, die die Armee noch nicht verlassen haben, gehalten werden mussten, lag auf der Hand.
Im Februar berichtete die Zeitung "Kommersant" unter Berufung auf Quellen, dass das Verteidigungsministerium etwa 4000 entlassene Oberoffiziere (Generäle und Admiräle) als Berater wieder anheuern könnte. Das könnte aber bedeuten, dass jeder in Dienst stehende General bzw. Admiral bis zu fünf Berater um sich schart.
Trotz dieser widersprüchlichen Zahlenspiele kann festgestellt werden, dass der Trend dahin geht, erfahrene Kommandeure, Stabsbeamte und Militärforscher in die Armee zurückzuholen. Dazu passt auch die jüngste Initiative zur Erhöhung der Altersgrenze für Offiziere.
Fragwürdig ist nur, ob das Verteidigungsministerium und der Generalstab zu einem Dialog mit den wenigen Kritikern der Militärreform bereit sind, die von der umfassenden „Optimierung“ nicht berührt worden sind. Und inwieweit die Erfahrungen der entlassenen Generäle gefragt sein könnten, die jetzt als Experten zum Umbau der Armee zurückgeholt werden.
Solche Bilder kommen bei den meisten Russen nicht gut an: Demonstration gegen Wladimir Putin am 04.02.2012 in Berlin, mitsamt US-Flagge und symbolischer Erschießung Putins.
Die Vereinigten Staaten von Amerika, die sonst von Politologen ob ihrer Fähigkeiten von "soft power", Kulturexport und verdeckter Einflußnahme in fremden Staaten gelobt werden, haben in Bezug auf Rußland während der letzten Monate einige schwerwiegende, fast schon unverzeihliche Fehler begangen. Selbige werden die vielgerühmte Anziehungskraft der USA wohl fürderhin schwer beeinträchtigen.
Fehler Nr. 1 war das unverblümte Eingeständnis, daß die US-Regierung politische und "zivilgesellschaftliche" Organisationen (vulgo: NGOs) in der RF finanziell unterstützt und sich damit direkt in die Innenpolitik des Landes einschaltet. Bereits am 5. Dezember 2011 hatte der Sprecher des Außenministeriums dies eingeräumt, weil die Wahl zur Staatsduma offenbar nicht den erwünschten Ausgang genommen hatte. Zugleich wurde angekündigt, kurzfristig zusätzliche Mittel bereitzustellen. Am 15. März hat dann Philip Gordon, seines Zeichens Assistant Secretary of State, in einer offiziellen Stellungnahme konkrete Zahlen auf den Tisch gelegt:
"[...]
Since 2009 we’ve spent more than $ 200 million seeking to promote democracy, human rights and civil society on the recent elections. [...]
We have proposed, as you know, using some of the resources that were generated from the U.S.-Russia investment fund and asked Congress to consider taking those resources which would be some $ 50 million and using it as a further effort to promote democracy, civil society and human rights in Russia.
[...]"
Die USA sind zwar kürzlich nur knapp an der Zahlungsunfähigkeit vorbeigeschrammt, doch für Einflußnahme auf die Wahlen in der RF können sie eine Viertelmilliarde Dollar lockermachen. Bemerkenswert - doch immerhin hat die US-Regierung nun die Maske fallen lassen und räumt unumwunden ein, daß es um die massive "Förderung von NGO's und junger politischer Kräfte" geht. (Jetzt weiß die Öffentlichkeit endlich, wer die Gehälter von Boris Nemzow und Konsorten bezahlt und ist nicht mehr auf Spekulationen und Verschwörungstheorien angewiesen.)
Dieses Gebaren wird in Rußland selbst vor allem negativ aufgenommen. Man erinnert sich noch der Oktoberrevolution 1917, die ohne massive deutsche Unterstützung für Lenin und seine Bolschewiki schlicht nicht möglich gewesen wäre. Der Oktoberumsturz wurde mit deutschem Geld finanziert, allein aus dem Etat des Auswärtigen Amtes flossen bis Ende 1917 über 26 Millionen Mark in die Kassen der Bolschewiki. Wieviel Leid wäre den russischen Menschen erspart geblieben, hätte Berlin auf diese Einmischung verzichtet. Lenin hätte dann weiter in seinem Schweizer Exil ausharren müssen, anstatt in Aktion zu treten und die bekannten Folgen herbeizuführen.
Somit überrascht es nicht, daß sich in der RF Widerstand gegen die neuerliche Finanzierung von Regierungsgegnern aus dem Ausland formiert. Manche Kommenatoren meinten, die an sich berechtigte Opposition würde durch das Annehmen ausländischer Gelder zu einer Ansammlung von Einflußagenten. Im Internet wurde sogar eine Petition aufgesetzt, mit der eine Gesetzesinitiative gestartet werden soll. Deren Ziel besteht darin, rußländische "Nichtregierungsorganisationen" dazu zu verpflichten, ihre im Ausland liegenden Geldquellen offenzulegen, damit jeder Bürger weiß, in wessen Auftrag die betreffenden NGOs arbeiten und das öffentliche Leben in Rußland beeinflussen. Bisher haben schon über 34.100 Personen die Petition unterzeichnet. Es ist also die gleiche Informations- und Zivilgesellschaft, die von der US-Regierung angeblich gefördert werden soll, die sich gegen eben dieses Engagement wendet. Vorbild der Gesetzesinitiative ist übrigens ein ähnlicher Rechtsakt in den USA (Foreign Agents Registration Act), welcher Personen, die im Auftrag fremder Staaten agieren, zu einer Registrierung verpflichtet. Dies dürfte es den Kritikern der Petition schwermachen, dagegen zu argumentieren, wenn selbst in ihrem großen Vorbild - den Vereinigten Staaten - die Rechtslage so ist.
Reklame soll als solche benannt werden: Video der russischen Netzaktivisten für die Offenlegung der Geldquellen von NGOs.
Fehler Nr. 2 war das Verhalten des erst kürzlich ernannten neuen Botschafters in Moskau, Michael McFaul. Obwohl er erst seit Januar im Amt ist, hat McFaul keine Gelegenheit ausgelassen, sich selbst und den Staat, den er repräsentiert, in ein schlechtes Licht zu rücken. So bereits an seinem ersten Arbeitstag, wo man eigentlich erwarten würde, daß sich ein neuer Botschafter zunächst mit seinen Mitarbeitern und den örtlichen Gegebenheiten bekannt macht. Doch McFaul hatte wichtigeres zu tun. Eine größere Zahl oppositioneller Politiker und NGO-Aktivisten wurde zu einer Sammelberatung in die Botschaft bestellt. Dummerweise hat ein Fernsehteam sie dabei gefilmt. Bis heute ist die Frage offen, was der Sinn dieses Treffens war. Ein sinnvoller Gedankenaustausch kann angesichts der Fülle und Heterogenität der Teilnehmer innerhalb der kurzen Zeit kaum zustande gekommen sein. Somit drängt sich fast zwangsläufig der Verdacht auf, daß es sich um eine "Befehlsausgabe" mit Blick auf die Präsidentenwahlen gehandelt hat.
Oder es war ein geplanter Affront gegen die Regierung, der man so kundtun wollte, daß Washington lieber Kontakt mit unbeliebten 1-%-Politikern sucht als mit den Regierenden, die vom Volk gewählt worden sind. Wie dem auch sei, McFauls Verhalten war ein - vermutlich kalkulierter - Verstoß gegen die Regeln des diplomatischen Stils. Ein Botschafter wird bei der Regierung des Gastlandes akkreditiert, nicht bei irgendeiner beliebigen "NGO". Ähnlich muß man einen Vorfall aus St. Petersburg bewerten. Dort hatten zwei Mitarbeiter des Generalkonsulats der USA an einer Oppositionsdemonstration teilgenommen. So etwas gehört sich für Angehörige des konsularischen Dienstes einfach nicht.
Und zumindest im patriotisch gestimmten Rußland reagieren die meisten Bürger nicht nicht positiv, wenn Teile der Opposition als ferngesteuert gelten. Entsprechend bösartig waren mithin die Reaktionen der betroffenen Aktivisten auf kritische Veröffentlichungen. Doch das hätten sie vorher wissen müssen. Ihr eigenes Verhalten gegenüber den Journalisten kann man nicht anders als infantil bezeichnen - und es wurde zur Primetime im Fernsehen ausgestrahlt. (Diese zweiteilige Reportage hat im übrigen einen Nerv getroffen. Sie stellt die richtigen Fragen, auf die die befragten Oppositionellen zumeist keine schlüssige Antworten geben können. Deshalb die wütenden Reaktionen.)
Auf die Medien reagiert auch McFaul zunehmend gereizt und ärgert sich über die Präsenz von Pressevertretern bei seinen Terminen. Der Botschafter von "god's own country" hat ein eigentümliches Verständnis von Pressefreiheit, wenn er die Berichterstattung rußländischer Medien über seine Fauxpas nicht ertragen kann. Immerhin wollen die USA doch "Demokratie und Menschenrechte" in Rußland fördern. Kritische Berichte über die Politik der Vereinigten Staaten scheinen jedoch nicht in dieses Konzept zu passen ...
Für Fehler Nr. 3 sind die (maßgeblich vom Ausland finanzierten) NGOs in der RF verantwortlich - und er wird natürlich auch ihren Sponsoren zugerechnet. In ihrer Wahnvorstellung, wonach sie kurz vor einer Revolution stünden, haben sie eine Liste "politischer Gefangener" vorgelegt und deren Freilassung verlangt. Diese Liste hat nur einen Schönheitsfehler: Die dort benannten Personen sitzen bzw. saßen wegen normaler Straftaten in Haft. Zum Teil haben sie ihre Taten offen zugegeben. Unter den 39 angeblichen "politischen Gefangenen" sind unter anderem mehrere Terroristen, die wegen zweifelsfrei erwiesener Terrorakte verurteilt worden sind. Teilweise konnten ihnen sogar Aufenthalte in afghanischen Al-Quaida-Lagern nachgewiesen werden.
Diese Mörder und Bombenleger sollen also "politische Gefangene" sein, die das böse Putin-Regime zu Unrecht "einkerkert"? Die Initiatoren der Liste glauben doch nicht im Ernst, daß die Bürger Rußlands dieser kruden Auffassung zustimmen werden?! Schon wieder ein Eigentor der selbsternannten Superdemokraten, das ihrem Ansehen abträglich sein wird. (Ironischerweise gehören zu den sog. politischen Gefangenen nicht nur mehrere islamistische Terroristen, sondern auch Sergej Araktschejew, ein ehemaliger Offizier der Breitschaftspolizei, der wegen der Ermordung dreier Dorfbewohner in Tschetschenien im Jahre 2003 verurteilt wurde.)
Den vorerst letzten großen Fehler beging der republikanische Anwärter auf das Präsidentenamt Mitt Romney. Am 26. März sagte er in einem TV-Interview, Rußland sei "without question our number one geopolitical foe". Ein zukünftiger US-Präsident, der im Jahr 2012 Rußland als Hauptfeind seines Landes sieht. Und gegen den "Feind Nummer 1" muß man natürlich mit allen Mitteln kämpfen - diese Schlußfolgerung drängt sich von allein auf, auch wenn Romney sich nicht explizit dazu geäußert hat. Damit hat er seinen Parteifreund John McCain als wichtigsten Russophoben in den Vereinigten Staaten abgelöst.
Doch mit seiner verbalen Entgleisung dürfte Romney, trotz des laufenden Wahlkampfes, über das Ziel hinausgeschossen sein. Selbst Kollegen distanzierten sich von ihm und es bleibt zweifelhaft, ob die Wähler solche Einlassungen, die von verhärteten Denkmustern aus der Zeit des Kalten Krieges zeugen, goutieren werden. Des weiteren hält Romneys Anschuldigung, die RF blockiere die Lösung wichtiger Probleme in internationalen Gremien, einer genaueren Analyse nicht stand, wie die Washington Post gezeigt hat.
An dieser Stelle sollen zwei Meinungsumfragen in den USA und Rußland erwähnt werden. Foreign Policy publizierte am 28.03 unter dem Titel "The Not-So-Evil Empire" eine Zusammenfassung von Umfragen über das Rußlandbild in den Vereinigten Staaten. Sonach sahen im Jahr 2011 61 % der Befragten die RF eher als befreundetes Land, während 37 % eine negative Meinung hatten. Diese Zahlen korrelieren mit einer Umfrage in Rußland, die das Lewada-Zentrum am selben Tag veröffentlicht hat. Auf die Frage "Wie verhalten Sie sich zu den USA insgesamt?" antworteten im März d.J. 50 % mit gut bzw. sehr gut (im November 2011 waren es sogar 64 %!), 35 % antworteten mit schlecht bzw. sehr schlecht (im November 2011 reagierten so nur 23 %!). (Nebenbei bemerkt, sind die bisherigen Werte aus 2012 so schlecht wie schon seit Jahren nicht mehr.)
Diese Zahlen zeigen zweierlei. Erstens sehen sich sowohl Amerikaner als auch Russen gegenseitig zumeist nicht mehr als Feinde an. Und zweitens bleiben die negativen Verlautbarungen und Aktivitäten amerikanischer Politiker und Diplomaten in Rußland nicht unbemerkt und schädigen direkt das Ansehen der USA unter den Bürgern der RF. Die Menschen leben nicht mehr hinter einem Eisernen Vorhang, sie wissen, wie man in Washington über sie und ihr Land redet. Die USA haben in den letzten Monaten ihre "Soft-power"-Fähigkeiten eingebüßt. Anstatt ein positives Bild Amerikas zu vermitteln, fühlen sich die Menschen von der einzig verbliebenen Supermacht zunehmend abgestoßen. Und dagegen hilft offenbar auch nicht die verstärkte Finanzierung von russischen "NGOs" durch die US-Regierung.
Auch dieses Bild kommt in der RF schlecht an: Boris Nemzow (Mitte) trifft sich mit John McCain (li.), einem der größten Rußlandhasser in den USA.
Zur Entschuldigung von Romneys Ausfällen wurde in einigen amerikanischen Medien angeführt, in Rußland liefe zur Zeit eine antiamerikanische Kampagne. Betrachtet man diese vermeintliche Kampagne allerdings genauer, dann stellt man fest, daß es sich lediglich um Berichterstattung über die bereits oben erwähnten Äußerungen von Politikern aus den USA geht. Die USA an sich sind den meisten Russen mehr oder minder egal, wenn negative Emotionen hochkommen, dann aufgrund der massiven Einflußnahme der USA und anderer Staaten auf die Innenpolitik. Der Journalist Wladimir Solowjow hat dies kürzlich in einer Fernsehsendung schön zusammengefaßt:
Die USA sind ein schönes Land mit netten Menschen. Und diese haben sich ihren Staat so eingerichtet, wie sie es gut finden. Das ist in Ordnung. Doch wir müssen unseren Staat und unsere Gesellschaft selbst ordnen. Ein bloßes Kopieren der USA ist nicht möglich.
Dies ist der Kern des sog. Antiamerikanismus in der RF. Es geht nicht um eine Herabwürdigung der USA, sondern um die Verteidigung des Eigenen. Mithin richtet sich die kritik gegen die massiven Versuche der Vereinigten Staaten, Rußland (und anderen Ländern) innenpolitische Entscheidungen aufzunötigen. Die Anmaßung vieler Politiker in Washington D.C., die glauben, sie hätten darüber zu befinden, wer in anderen Hauptstädten regieren darf und wer nicht, wird in Rußland nicht akzeptiert. Die Bürger der RF wollen selbst über ihr Schicksal bestimmen und nicht nur Satrapen fremder Herren sein.
Im übrigen ist dieser angebliche "Anti-Amerikanismus" auch vom Völkerrecht gedeckt. Die staatliche Souveränität ist als altes Völkerrechtsprinzip nach wie vor in Geltung (obwohl dies den atlantischen Interventionisten mißfällt) und findet ihren Ausdruck u.a. in Artikel 2 Nr. 7 der UN-Charta. Folglich handeln diejenigen Russen, die sich gegen Einmischungen des Auslands in ihre inneren Angelegenheiten verwahren, in Übereinstimmung mit dem geltenden Völkerrecht.
Doch dies wollen viele in den USA und auch in der EU nicht einsehen. Sie wähnen sich im Besitz des universalen Heils und fühlen sich zum Messias berufen, der anderen Völker - ggf. auch gegen deren Willen - bekehren und erlösen soll. Diese Haltung besitzt in den USA eine lange Tradition. Schon 1917, beim Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg, teilten einflußreiche protestantische Theologen die Welt in gut und böse ein und schrieben den USA die Mission der Welterlösung zu. Ein Staat wie seinerzeit Deutschland, der meinte, seinen eigenen Weg gehen zu dürfen, müsse mit dem Schwert bekehrt werden. "Freiheit" und "Demokratie" (was immer diese Begriffe auch bedeuten mochten) wurden schon damals in den USA als christliche Werte verstanden, deren Umsetzung der kollektiven Erlösung im religiösen Sinne gleichkommt.
Diese typisch amerikanische Einstellung zum "Rest der Welt" ist höchst anmaßend und muß auf andere Völker zwangsläufig abstoßend wirken. Letzteres ist ohne weiteres nachvollziehbar, auch wenn abschätzig von "Antiamerikanismus" die Rede ist. Statt sich Gedanken über die innerweltliche Erlösung der Menschheit zu machen und ihr Land zum Messias zu stilisieren (wobei die Soldaten der US-Streitkräfte Träger des göttlichen Schwertes sind), sollten amerikanische Politiker lieber Augustinus lesen und ansonsten ihre eigenen Probleme lösen. Damit dürften sie eine Weile beschäftigt sein und ihr Ansehen bei den übrigen Völkern würde wachsen.
Das Sternenbanner weht über Sibirien: Amerikanische Truppen hatten von 1918 bis 1920 u.a. die Hafenstadt Wladiwostok besetzt. Rußland war infolge des Bürgerkrieges als Spieler auf der internationalen Bühne ausgeschaltet.
Es ist zwar schon ein wenig spät für Nachbetrachtungen zur Präsidentenwahl in Rußland, doch zwei interessante Statistiken und zwei weitere Meldungen müssen noch kurz behandelt werden, um das Bild abzurunden.
Am 27. März haben die Soziologen des Lewada-Zentrums eine Analyse veröffentlicht, in der u.a. die soziale Zusammensetzung der Wähler der fünf Präsidentschaftskandidaten untersucht wird. Diese Darstellung ist aufschlußreich und verweist die Selbstdarstellung von Teilen der "nichtsystemischen", d.h. außerparlamentarischen Opposition, wonach die jüngeren und besser gebildeten Bürger größtenteils gegen Wladimir Putin eingestellt wären, in das Reich der Legenden. Kurz gesagt: Auch die Wähler aus der sogenannten "kreativen Klasse" haben mehrheitlich Putin gewählt.
a) Altersgruppen: Unter den 18- bis 24-jährigen kam Putin auf 53 %, Michail Prochorow hingegen auf 12 %. Unter den 25- bis 39-jährigen votierten 55 % für Putin und 11 % für Prochorow. Bei den 40- bis 55-jährigen brechen beide dann ein (49 bzw. 7 %), während Putin bei den über 54-jährigen noch einmal deutlich zulegen kann (58 %).
b) Bildungsniveau: Unter den Wählern mit Hochschulausbildung (das waren 31 % der Befragten) kam Putin auf 53 %, Prochorow auf 13. Von denen mit mittlerer Bildung votierten 54 % für Putin, für Prochrow waren es (wie auch in der nächsten Gruppe) nur noch 6 %. Wähler mit einfacher Berufsausbildung neigten zwar eher dem KPRF-Chef Sjuganow zu (21 %), doch auch in dieser Gruppe kam Putin noch auf 51 % Zustimmung.
c) Beschäftigung: Unter allen Berufsgruppen kam Putin bei den selbständigen Unternehmern mit 31 % auf sein mit Abstand schlechtestes Ergebnis. Doch auch hier blieb er auf Platz 1 der Beliebtheitsskala, Prochorow errang allerdings beachtenswerte 30 %. Diese soziale Gruppe machte allerdings bloß 3 % der Befragten aus. Bei allen anderen Berufsgruppen (mit Ausnahme der Arbeitslosen [40 %]) kam Putin hingegen auf Werte von 50 % und mehr. Selbst unter den Studenten votierte die Hälfte für ihn. Von den Rentnern waren es 59 % und bei den Hausfrauen/-männern gar 69 %. Prochorow kam nur noch in drei Gruppen auf niedrige zweistellige Werte: leitende Angestellte (16 %), Angestellte ohne Spezialisierung (14 %) und Studenten (13 %).
Fazit: Der neue Präsident Wladimir Putin erfreut sich der deutlichen Unterstützung der Mehrheit der Wähler aus allen sozialen Gruppen, allen Alterskohorten und, ganz wichtig, allen Regionen Rußlands. Denn selbst in den Großstädten hat die Mehrheit für ihn votiert. Es waren eben mitnichten nur die Rentner und Staatsangestellten, wie in den Wählerbeschimpfungen behauptet.
Der Blogger Alexander Kirejew hat die Wahlergebnisse von Staatsbürgern der Rußländischen Föderation, die im Ausland leben und Anfang März dort gewählt haben, zusammengestellt. Manche dieser Resultate sind schon erstaunlich. So haben in den elf Wahllokalen auf deutschem Boden 21.829 Auslandsrussen ihre Stimme abgegeben. Würde die These, wonach hierzulande alles besser ist als in Rußland, tatsächlich stimmen, so hätten diese Menschen doch dem "Autokraten" Putin eine deutliche Abfuhr erteilen müssen - schließlich erleben sie die "Vorzüge" Deutschlands gegenüber dem "am Boden liegenden Rußland" doch jeden Tag am eigenen Leib!
Doch dem war nicht so. Wladimir Putin kam unter den in Deutschland lebenden Wählern auf eine Zustimmung von 49,86 %, der "Liberale" Prochorow hingegen nur auf 33,23 %. Die drei anderen Kandidaten spielten praktisch keine Rolle, lediglich Sjuganow erreichte 9,39 %. Offenkundig wissen auch die Auslandsrussen, was ihr Vaterland an Putin hat und an dieser Einstellung konnte selbst die einseitige Berichterstattung der deutschen Medien nicht rütteln. Zudem sehen sie jeden Tag, was in Deutschland und der EU alles nicht funktioniert, so daß das Bild des "goldenen Westens" relativiert wird.
Am Dienstag hat nun Präsident Medwedew das neue Parteiengesetz der RF unterzeichnet, nachdem das parlamentarische Verfahren abgeschlossen war. Es senkt die Hürden für die Registrierung von politischen Parteien deutlich. Das alte Parteiengesetz war von der außerparlamentarischen Opposition wegen seiner hohen formalen Anforderungen scharf kritisiert worden. Nun hat die Regierung dieser Kritik nachgegeben, doch die Opposition ist wieder nicht zufrieden:
"[...]
Kreml-Kritiker sind der Meinung, dass die russische Führung mit der Reform eine Zersplitterung der Opposition erreichen möchte, um den ihr treu ergebenen Kräften weiterhin eine dominante Rolle zu sichern."
Einen besseren Beweis, daß ein Gutteil der APO schlichtweg spinnt, kann es nicht geben. Das alte Gesetz war angeblich eine schlimme Sache und das neue, auf Wunsch der Opposition inhaltlich wesentlich geänderte, soll ebenfalls eine finstere Verschwörung des Kremls sein? Hier liegt ein Zirkelschluß der APO-Aktivisten vor, die Regierungskritik als Selbstzweck betreiben und nicht auf die Schlüssigkeit ihrer Argumente achten. So werden sie jedenfalls noch lange politisch erfolg- und somit machtlos bleiben.
Unterdessen hat Alexej Nawalnyj, einer der Vorkämpfer der "nichtsystemischen Opposition", eingesehen, daß er unter normalen Bedingungen keinen politischen Erfolg in Rußland haben kann. Deshalb entschied er sich für den Weg des illegalen Kampfes. Die nächste Demonstration, die für den 5. Mai in Moskau geplant ist, will er nicht mehr bei der Stadtverwaltung anmelden, obwohl die Kundgebung damit illegal wäre. Offenkundig brauchen Nawalnyj und Konsorten die Bilder eines Polizeieinsatzes für ihre Strategie.
Heute, auf den Tag genau vor sechs Jahren bin ich von meinem ersten Studienaufenthalt an der Staatlichen Universität in Sankt Petersburg nach Deutschland zurückgekehrt. Es war diese erste Reise ins legendenumwobene Rußland, die mein Leben wie kaum eine andere verändert hat. Gewiß, mit dem Erlernen der Sprache hatte ich schon Jahre zuvor begonnen und auch Geschichte, Politik und Landeskunde waren mir nicht fremd, doch war mein Blick auf Land und Leute von vielen (oft typisch deutschen) Klischees geprägt gewesen. Doch dann mußte ich vor Ort feststellen, daß ein erheblicher Teil dieser Auffassungen nicht mit der Wirklichkeit überein stimmte. Das betraf nicht nur volkstümliche Klischees, sondern auch solche, die hierzulande als wissenschaftlich galten. So z.B. die These, einen "homo sovieticus" habe es nie gegeben, der "Sowjetmensch" sei ein reines Propagandaprodukt gewesen. Doch dann bin ich Menschen - auch jüngeren Alters - begegnet, deren persönliche Identität man nicht anders beschreiben konnte. Geboren in der Ukrainischen SSR in eine Familie unterschiedlicher ethnischer Herkunft, Jugend in der Kasachischen SSR, Studium in der RSFSR, Arbeit in der Estnischen SSR - wie sollten sich diese Menschen anders sehen denn als Sowjetbürger?
Auch die populäre Meinung, alle Menschen in Rußland wären arm, hätten kaum etwas zu essen und würden kurz vor dem Delirium stehen, fand ich im Lande selbst nicht bestätigt. Im Gegenteil. Die meisten waren gut gekleidet und wohlgenährt, die Läden waren voll von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern und schon damals hatte fast jeder jüngere ein Mobiltelefon am Ohr. Sogar in den Vororten und auf den Dörfern gab es Handyempfang. Und es gibt auch dort Menschen, mit denen man die halbe Nacht feiern kann, ohne daß es in ein Besäufnis ausartet. Manche Ausländer sprechen dort mehr dem Alkohol zu als ihre einheimischen Gastgeber, die sich während des ganzen Abends mit einem Glas Wodka begnügen. Daß der Wohlstand der Menschen erheblich gewachsen war, ließ sich auch daran ermessen, daß immer mehr moderne Autos (oft ausländischer Provenienz) auf den Straßen zu sehen waren, während die einheimischen kantigen Ladas aus dem Straßenbild zunehmend verschwanden.
In der Folge mußte ich lernen, dem von den deutschen Mainstream-Medien vermittelten Rußlandbild mit Mißtrauen zu begegnen, wenn ich denn das Land und seine Menschen verstehen will. Anstatt also den zehnten Aufguß einer der gängigen Fernsehreportagen anzusehen, steht seither für mich die Lektüre russischsprachiger Medien im Vordergrund. Das Gebaren des deutschen Staatsfernsehens vor der Präsidentenwahl am 4. März hat mich darin bestärkt. Allen Kanäle - ARD, ZDF, 3sat, Arte und den Dritten - waren vor der Wahl mit mehr oder weniger gehaltvollen Sendungen über Rußland angefüllt. Selbst für russophil gestimmten Zuschauer war das einfach zu viel. Aber nach der Wahl, als es darum gegangen wäre, deren Ergebnisse zu analysieren, wandten sich die Sender sofort anderen Themen zu und beließen es bei einigen halbgaren Kommentaren am Wahltag.
Welcher Unsinn in den "Berichten" vor der Wahl gesendet wurde, mag man an zwei Beispielen ermessen. Da berichtete ein deutscher Reporter aus einem Dorf in der Taiga, daß es den Menschen schlimm gehe und es im Ort nicht mal mehr einen Laden gäbe. Dies sei Putins Schuld, weil er sich nicht genügend um seine Bürger kümmere. Blicken wir einmal nach Deutschland: Auch hierzulande gibt es in vielen Dörfern keinen Laden mehr, weshalb die Einwohner per Auto oder Taxi in die nächstgelegene Stadt zum Einkaufen fahren müssen. Soll daran jetzt vielleicht Angela Merkel schuld sein?
Nächster Fall: Ein Reporter besucht einen alten Mann, der sich beklagt, weil er sich nicht alle Medikamente zur Behandlung seiner schweren Krankheit leisten könne. Daran sei Putin schuld, denn dieser habe eine kostenlose Gesundheitsversorgung versprochen. Auch hier stellt sich die Frage, woher die deutschen Journalisten ihre Maßstäbe beziehen. In Rußland ist das staatliche Gesundheitssystem für die Bürger zwar kostenlos, bietet aber natürlich nur eine Basisversorgung. Jedem Bürger steht es jedoch frei (und alle Russen, die ich kenne, machen davon Gebrauch), nach ihrem Gusto Zusatzversicherungen für alle möglichen Krankheiten abzuschließen. Dieses system ist weitaus freier und bürgerfreundlicher als das deutsche. Denn hierzulande gibt es eine gesetzlich verordnete Zwangsversicherung, die jedoch immer weniger Leistungen erbringt. D.h. zusätzlich zu den Zwangsbeiträgen müssen deutsche Patienten immer mehr Leistungen ganz oder teilweise aus eigener Tasche zahlen - und zwar ohne daß sie wesentlichen Einfluß auf die Krankenversicherungen hätten. In der Gesamtschau ist das rußländische System bürgerfreundlicher und wahrscheinlich auch billiger. Doch eine vollständig kostenlose Gesundheitsversorgung ohne Eigenbeteiligung kann es in keinem Staat dieser Welt geben, auch wenn manche Journalisten dies nicht einsehen wollen. Die einzige Ausnahme wäre ein Staat, dessen Finanzminister über einen Dukatenesel verfügt. ;-)
Das Zusammenspiel zwischen den deutschen Medien und ihren Konsumenten ließ sich in den Blogs, Foren und Leserkommentarspalten sehr gut sehen. Die Journalisten lieferten die Steilvorlage ("alles in Rußland ist schlecht") und die Konsumenten vollendeten den Satz. Da konnte man z.B. lesen, daß das Volk in Rußland hungere und nur "Putin und seine Oligarchenfreunde" genug zu essen hätten. Alles andere seien "potjemkische Dörfer". Aha. Unsere Landsleute gieren offenbar nach Negativschlagzeilen aus Rußland. Die Realität vor Ort mitsamt ihren politischen und gesellschaftlichen Prozessen wird dabei ausgeblendet. So verwundert es auch nicht, daß aus einigen zehntausend Demonstranten, die im Winter an Kundgebungen teilgenommen haben, plötzlich "das russische Volk" wird. Zur Erinnerung: In der RF leben 142 Millionen Menschen.
In der selbsternannten "Achse des Guten" durfte sich zweimal der Schriftsteller Richard Wagner über die Präsidentenwahl verbreiten (siehe hier und hier). Schon die Auswahl des Autors überrascht. Wagner ist ein in Rumänien geborener Deutscher und hat dort Germanistik studiert, bevor er das Schreiben zu seinem Beruf gemacht hat und später in die BRD ausgewandert ist. Schon aus seiner Biographie ist nicht ersichtlich, was Wagner dazu qualifiziert, über Rußland zu schreiben. Er scheint über keinerlei überdurchschnittliche Kenntnisse von Sprache, Land und Leuten zu verfügen.
Läßt man sich als Leser auf Wagners Ergüsse ein, so wird der obige Eindruck schnell bestätigt. Profundes Wissen über Rußland ist nicht vorhanden, mithin sind auch keine neuen Erkenntnisse zu erwarten. Wagner geht es vielmehr darum, die ewigen Vorurteile des deutschen Michels zu bestätigen. Für ihn ist Rußland ein unbeachtliches Nullum - geschichts- und identitätslos, ein Wrack, das noch auf dem Meer treibt. Eine Entwicklung habe in Rußland seit Jahrhunderten nicht stattgefunden, selbst im ärmsten EU-Land seien die Menschen besser dran als in der RF usw. usf. Mit anderen Worten: Die Russen sind kulturlose Barbaren. Er könne sich nicht vorstellen, daß Amerikaner in Rußland leben. Tun sie aber, ebenso wie zehntausende Deutsche. Das nennt man Globalisierung, auch wenn dieser Begriff dem Banater Provinzpoeten nicht geläufig sein mag.
Wagners Verbalinjurien mögen in den Kreisen, die den besagten Weblog regelmäßig lesen, vielleicht gut ankommen, allerdings belegen sie: Es geht keineswegs um hehre Ideale wie "Demokratie" oder "Menschenrechte", vielmehr besteht die Motivation einfach in banalem Russenhaß. Wagners Einlassungen waren überflüssig, doch sie zeigen sehr schön, daß auch Personen, die vom Thema keine Ahnung haben, einen Text darüber schreiben können. Folglich scheint das Germanistikstudium in Rumänien nicht schlecht gewesen zu sein.
Bemerkenswert ist schließlich die Arroganz, die viele Beiträge über Rußland prägt. Die Autoren wähnen sich im Besitz der alleinigen Wahrheit und die Entwicklung der BRD oder der EU gelten ihnen als unhinterfragbares Muster, an dem sich auch die RF auszurichten habe. Dabei sollte doch gerade die seit Jahren andauernde Krise in der Europäischen Union Stoff zum Nachdenken liefern. Auch Erscheinungen im politischen Leben Deutschlands werden kaum kritisch hinterfragt. So etwa bei der jüngsten Wahl des Bundespräsidenten. Dabei waren lediglich drei Kandidaten angetreten (in der RF immerhin fünf). Der von vier Parteien unterstützte Joachim Gauck gewann im ersten Wahlgang mit 79,9 % der Stimmen. Diese Wahl soll also "demokratischer" gewesen sein als die Präsidentwahl in der RF, deren Sieger auf lediglich 63 % kam?
Bei genauerer Betrachtung ist auch die These, die "wahre Opposition" in Rußland sei "nicht-systemisch" weil nicht in den Parlamenten vertreten, unhaltbar. Auch in Deutschland gibt es zahlreiche kleine politische Gruppierungen, die nicht in den Parlamenten sitzen oder - Beispiel NPD - dort einflußlos sind. Auch hierzulande wird "das System" von einigen wenigen Parteien gestützt, die nicht recht wissen, wie sie mit "Störenfrieden" wie den Piraten umgehen sollen. Würde man die die o.g. These aus der RF auf die BRD übertragen, dann hieße das, daß nur NPD, Republikaner, ÖDP, DKP, MLPD und Bayernpartei die "wahre Opposition" darstellen, die gegen das "korrupte System" kämpft. Eine derartige Aussage über unsere politischen Verhältnisse würde wohl zumeist ein Tippen an die Stirn hervorrufen. Bezüglich Rußlands wird dieser Unsinn oft jedoch unumwunden geglaubt.
Ähnlich auch der Trend zur Bildung großer Koalitionen aus CDU und SPD. Die beiden Großparteien haben sich hinsichtlich ihrer Programmatik, Rhetorik und praktischen Politik stark aneinander angenähert und unterscheiden sich nur noch in kleinen Nuancen. Doch selbst wenn es zu keiner großen Koalition kommt, bietet die starke Ähnlichkeit von Schwarzen und Roten Gewähr dafür, daß sich in der Politik nichts wesentliches ändern wird. Mit anderen Worten: Egal wen wir wählen, die Politik, die wir bekommen, ist weitgehend die gleiche. Ich selbst halte diese Entwicklung des politischen Systems der BRD (die von den Mainstreammedien flankiert wird, indem sie Abweichler wie z.B. Sarrazin gnadenlos abschießen) weder für gut noch für nachahmenswürdig.
Aufmerksame Leser des Neuen Testaments wissen es bereits - wir Deutschen täten gut daran, unser eigenes Haus und die EU, deren Mitglied wir sind, endlich in Ordnung zu bringen und unsere eigenen Probleme, an denen es wahrlich nicht mangelt, zu lösen, anstatt anderen Staaten hochnäsige Lektionen zu erteilen. "Den Splitter, der im Auge deines Bruders ist, den siehst du; aber den Balken, der in deinem Auge ist, den siehst du nicht."
Anfang März hat die Federation of American Scientists einen Bericht unter dem Titel "Russian nuclear forces 2012" vorgelegt. Das interessante Papier geht auf den derzeitigen Zustand und die Entwicklungsperspektiven der atomar bewaffneten strategischen Streitkräfte der Rußländischen Föderation ein. Aus der Fülle von Informationen seien an dieser Stelle einige wichtige Punkte herausgegriffen.
1. Landgestützte Interkontinentalraketen
Die Strategischen Raketentruppen haben derzeit 322 ICBMs mit etwa 1090 Sprengköpfen im aktiven Bestand. Ein erheblicher Teil der Trägerraketen muß jedoch in den nächsten Jahren ausgesondert werden, da sie ihr Lebensalter erreicht haben. Die Produktion neuer Systeme geht nur langsam vonstatten, ein auch nur annähernd vollständiger Ersatz der außerdienstgestellten Trägermittel ist nicht möglich. Mithin wird die Zahl der ICBMs in den nächsten zehn Jahren auf etwa 250 Stück sinken.
2. Seegestützte Interkontinentalraketen
Die Seekriegsflotte verfügt über 9 Atom-U-Boote, die Interkontinentalraketen tragen können (6 in der Nordflotte, 3 in der Pazifikflotte). Zusammen sind dies im Höchstfall 144 SLBMs mit bis zu 528 Sprengköpfen. Von diesen Schiffen sind in der Regel jedoch nicht mehr als sieben tatsächlich bewaffnet.
3. Strategische Bomber
Im Bestand der Fernfliegerkräfte befinden sich 72 strategische Bomber, die mit insgesamt 820 Atomsprengköpfen, getragen von Flügelraketen oder Bomben, bestückt werden können.
In den vergangenen Jahren mußten mehrere Bomber ausgemustert werden. Dasselbe trifft für den Großteil der raketentragenden U-Boote zu. Während die Zahl der landgestützten Systeme allerdings weiter drastisch sinken wird (s.o.), werden sich die maritimen und fliegenden Systeme wohl auf dem jetzigen niedrigen Niveau stabilisieren.
Abschließend noch einige Zahlen zum Vergleich: Auch in den NATO-Staaten ist die Zahl der Atomwaffen und ihrer Trägersysteme in den zurückliegenden 20 Jahren erheblich gesunken. Zur Zeit verfügen die USA über folgende strategische Streitkräfte: 420 einsatzbereite ICBMs, 14 SLBM-tragende Atom-U-Boote und 60 strategische Bomber. In Frankreich und Großbritannien stellen jeweils 4 SLBM-bestückte U-Boote den Hauptteil der strategischen Streitkräfte dar.
Was weiß man in Deutschland über evangelische Christen in Rußland? Wohl nicht viel, das Land wird primär mit der Orthodoxie und vielleicht noch mit dem Islam assoziiert. Juden, Buddhisten, Katholiken und Protestanten tauchen, wenn überhaupt, nur am Rande auf. Dabei war und ist Rußland multireligiös. Und gerade die Lutheraner wirkten in den zurückliegenden Jahrhunderten oft prägend, so daß für viele Russen das Wort Protestant identisch ist mit Lutheraner. Allein in Sankt Petersburg existierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehrere lutherische Gemeinden, deren größte 20.000 Glieder hatte. Gemeint ist die St. Petri-Gemeinde mit ihrer berühmten Kirche am Newskij-Prospekt im Zentrum der Stadt.
Anläßlich des dreihundertjährigen Gemeindejubiläums ist eine reich bebilderte Festschrift unter dem Titel "St. Petri 1710-2010 - Drei Jahrhunderte evangelischen Gemeindelebens in St. Petersburg" erschienen (Bezug über die Fachbuchhandlung Hein, Preis: 16 €). Sie informiert über die Anfänge evangelischen Gemeindelebens in Piter. Die erste Kirche befand sich 1704 in der Peter-und-Pauls-Festung und wurde vor allem von ausländischen Soldaten und ihren Familien besucht. Weitere Gemeindegründungen und Kirchenbauten folgten, so daß es fast ein Dutzend Gemeinden in Petersburg gab. Selbige wuchsen vor allem durch die Zuwanderung von Deutschen und Niederländern in das Kaiserreich. Nicht vergessen darf man auch die Gemeinden der ebenfalls lutherischen Finnen und Esten in der Stadt.
Ausführlich wird die wechselvolle Geschichte der Petrikirche beleuchtet. 1728/30 wurde die erste Kirche am Newskij-Prospekt errichtet; 1838 wurde dann der heute noch stehende klassizistische Bau geweiht. Seit den 1920er Jahren erschwerten die Bolschewiki die Gemeindearbeit immer weiter, 1937 wurde die Kirche geschlossen, 1938 fanden die beiden Pastoren den Märtyrertod. Das Gebäude wurde zunächst als Lager genutzt, 1962 folgte der Einbau eines Schwimmbades. Erst zu Beginn der 1990er gelang es der 1988 wiederkonstituierten evangelisch-lutherischen St.-Annen- und St.-Petrigemeinde, die Rückgabe der Kirche zu erwirken.
Das Buch enthält auch einige überraschende Details über die lutherischen Gemeinden zur Zarenzeit. Wie die Orthodoxen so waren auch die Lutheraner Staatskirche, d.h. ihre Post wurde vom staatlichen Kurierdienst befördert, sie stellten Militärgeistliche usw. Insoweit bestand kaum ein Unterschied zur bevorrechtigten Stellung der evangelischen Staatskirchen in Deutschland. Von einer einflußreichen Stellung, wie sie sie vor einhundert Jahren innehatten, sind die Petersburger Protestanten schon mangels Masse weit entfernt. Dennoch pulsiert das Gemeindeleben, wenn auch in bescheidenem Umfang. Davon kann man sich auch als Besucher der Stadt überzeugen, wenn man die Petrikirche besichtigt.
Die Petrikirche anno 1909, vom Newskiprospekt aus gesehen.