Montag, 5. Oktober 2009
Meister des Sports
Nachdem ich im Frühjahr eine Match-LP erworben hatte, begann ich, mich für die "klassischen" Kurzwaffendisziplinen zu interessieren und nach einem entsprechenden Lehrbuch zu suchen. Durch Wolfgang Nitschs Buch über die Geschichte von Faustfeuerwaffen bin ich auf einen mir bis dahin unbekannten sowjetischen Sportschützen und Autor aufmerksam geworden, der in den 1950er und 60er Jahren weltweit bekannt war, heute jedoch in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Die Rede ist von Lew M. Weinstein.
Er wurde am 12.03.1916 in Jekaterinburg geboren. Wie die meisten seiner Altersgenossen war er in den Kriegsjahren Angehöriger der Roten Armee und blieb es auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges, dann jedoch als Leistungssportler. Zuletzt trug er den Rang eines Majors a.D. (das nebenstehende Bild zeigt ihn in Offiziersuniform). Wie sein Nachname schon verrät, war er Jude. Trotzdem scheint er es irgendwie geschafft zu haben, die in der späten Stalin-Zeit einsetzende Judenverfolgung, bei der viele jüdische Sowjetbürger ihre Stellungen verloren, zu überstehen.
1952 wurde Weinstein bei den Olympischen Sommerspielen in Helsinki im wahrsten Sinne des Wortes zum "Shooting Star" der Schießsportszene: Fünfter mit der Freien Pistole auf 50 m und Dritter mit dem Freien Gewehr auf 300 m. Diese Bronzemedaille hat er als totaler Außenseiter gewonnen, war er doch vor allem ein ambitionierter Kurzwaffenschütze. Damit zeigt sich, daß man durchaus auf beiden Feldern hervorragende Ergebnisse erbringen kann. Vielleicht war er aber auch nur ein Ausnahmeschütze. ;-) Außerdem hat er mehrere Welt- und Europameistertitel errungen und hielt fünf Weltrekorde, zwei Europarekorde sowie 32 UdSSR-Rekorde.
Später hat Weinstein als Trainer im Zentralen Armeesportklub (Abk.: ZSKA) in Moskau gearbeitet und dort zahlreiche Kurzwaffenschützen ausgebildet. 1962 wurde ihm der Ehrentitel "Verdienter Trainer der UdSSR" verliehen. Zuvor hatte er bereits den Schießsportabteilungen der (Armee-)Sportklubs "Dynamo" in Tiflis (1946-1950), Leningrad (1950-1953) und Moskau (1953-1955) angehört.
Er war noch bis ins hohe Alter rege, sein letztes Buch stammt aus dem Jahr 1998. Am 25.12.2004 ist Lew Weinstein, im 89. Lebensjahr stehend, gestorben. Noch heute erinnern sich seine Schüler dankbar an ihn.
Im Jahre 1956 hat er ein kleines Lehrbuch für Kurzwaffenschützen geschrieben, in dem er seine Erfahrungen resümiert und viele Tips gibt. Aufgrund von Weinsteins Erfolgen hat das Werk auch international Beachtung gefunden. Da es damals zwei deutsche Staaten gab, erschien dieses Buch sogar zweimal in deutscher Sprache. Zum einen in der DDR mit dem Titel "Sportschießen mit Pistole und Revolver" (Berlin 1960) und zum anderen in der BRD als "Sportliches Schießen mit Faustfeuerwaffen" (hrsg. vom Deutschen Schützenbund). Die DDR-Ausgabe ist antiquarisch nur schwer zu bekommen, weshalb ich derzeit nur die westdeutsche besitze (3. Aufl., o.O. o.J. - vermutlich Wiesbaden um 1960).
Es wäre sicher interessant, beide miteinander zu vergleichen. In dem mir vorliegenden Exemplar wird als Übersetzer ein Johannes Schulz aus Berlin genannt. Fragt sich nur, ob Ost- oder West-Berlin. Nicht, daß es sich bei beiden Büchern um denselben Übersetzer handelt ... Es wäre nicht die erste Überraschung aus unsere jüngeren Vergangenheit. ;-)
Weinsteins Büchlein ist aus meiner Sicht sehr instruktiv und anschaulich geschrieben. Kurzum: Man kann daraus viel lernen und ich komme damit gut klar. Letzteres könnte natürlich auch daran liegen, daß ich mit dem historischen und kulturellen Kontext, in dem der Text entstanden ist (nämlich dem Leben in der Sowjetunion) ein wenig vertraut bin. Ein Leser, dem dieses Hintergrundwissen fehlt, hätte möglicherweise Schwierigkeiten.
Zum Inhalt: Alle wichtigen Punkte wie Schießtechnik, Wettkampfvorbereitung und Waffentechnik werden (für den Normalgebrauch) erschöpfend behandelt. Das Buch ist natürlich auf die UIT-/ISSF-Disziplinen jener Jahre zugeschnitten. Dies merkt man z.B., wenn die Vor- und Nachteile der Pistole TT-33 und des Nagant-Revolvers erläutert werden. Es dürfte die Vorstellungskraft vieler "Löchlestanzer" übersteigen, daß mit solch "bösen" Großkaliberwaffen einmal Weltmeisterschaften und Olympische Spiele bestritten worden sind.
Ein zweites Buch, welches einen ähnlichen Hintergrund aufweist, ist "Sportschießen" von Alexander A. Jurjew (Moskau 1962, dt. Übersetzung: Berlin 1967), worauf mich freundlicherweise Ulrich Eichstädt hingewiesen hat. Von diesem Titel ist mir in deutscher Sprache nur die genannte DDR-Ausgabe bekannt. Jurjews Fokus liegt auf dem sportlichen Gewehrschießen, weshalb sein Text eine gute Ergänzung zu Weinstein darstellt. An das Niveau von Weinstein reicht er jedoch m.E. nicht heran; schon rein sprachlich klingt vieles sehr sowjetisch-technokratisch und ist insofern typisch. Das Lesen fällt somit nicht immer leicht.
Inhaltlich wird großes Gewicht auf die Schießtechnik und Wettkampftaktik gelegt. Dabei geht Jurjew sehr akribisch vor und analysiert z.B. die Stellung der Knochen im menschlichen Körper bei jeder Anschlagsart. Auch sonst fließen Erkennntnisse der Sportmedizin sehr häufig in den Text ein. Inwieweit das hilfreich ist, sei hier einmal infragegestellt. Seit ich Jurjews Buch kenne, habe ich jedenfalls deutlich öfter Rückenschmerzen als vorher. ;-)
Nichtsdestotrotz kann man auch aus Jurjews Buch viel mitnehmen, vor allem, weil es aus einer Zeit stammt, als Sportwaffen noch nicht wie orthopädische Gehhilfen ausgesehen haben. ;-) Es scheint sich jedoch eher an Trainer zu richten, während man sich als (unter-)durchschnittlicher Normalschütze von Weinsteins Buch ein wenig besser angesprochen fühlt. Beide Titel sind heute nur noch antiquarisch erhältlich, wobei ich vor einiger Zeit die Webseite eines Waffenhändlers gesehen habe, der noch neue Exemplare von Weinsteins Buch hatte. Wer Russisch spricht, könnte sich auch an diesem Text versuchen.
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