Sonntag, 11. Oktober 2009

Das Laboratorium der Moderne

Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel hat 1988, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ein Buch vorgelegt, das sich fast schon als prophetisch erwiesen hat und im Frühjahr 2009 endlich auch als Taschenbuch erschienen ist. In „Petersburg – Das Laboratorium der Moderne 1909-1921“ beschreibt er die Entwicklung der Residenzstadt des Zarenreiches hin zu einer bürgerlichen Metropole. Diese Epoche hat mit als Vorlage für jene Wiederkehr der zeitweilig Leningrad geheißenen Stadt gedient, die sich in den letzten Jahren vollzogen hat – von der im Schatten Moskaus stehenden Provinz – hin zu einer Weltstadt aus eigenem Recht.

Wie für das gesamte Russische Reich, so waren auch für Sankt Petersburg die Jahre nach 1861 geprägt von einer stürmischen Entwicklung. Bauernbefreiung und zunehmende Industrialisierung führten zwangsläufig zu einer stärkeren Urbanisierung. Damit begann die Herausbildung eines Bürgertums, welches maßgeblich durch Industrielle und Geschäftsleute geprägt war und nicht so recht in das überkommene Schema der bäuerlichen Autokratie passen wollte. Es dürfte klar sein, daß solch eine rasante Entwicklung immer zu Konflikten und Paradoxien führen muß.
In seinem Werk gelingt es Schlögel, dies an mehreren Fallbeispielen aus der Stadtgeschichte St. Petersburgs nachzuzeichnen. Sei es der Streit um den richtigen Baustil für die Stadt (Jugendstil, Neoklassizismus, altrussischer Stil), ein Querschnitt durch die disparate Intelligentsia oder biographische Skizzen von Kaufleuten, Politikern und Künstlern.
Diese Großstadt als Laboratorium der Moderne war spannend und vielschichtig – und wird von Schlögel auch so geschildert. Um so mehr, als Petersburg während dieser Zeit im Zentrum des Weltgeschehens lag – man denke nur an die Revolutionen von 1917 –, bevor es danach zur Peripherie der Sowjetunion wurde.




Es ist genau diese Epoche des Aufbruchs, der Modernisierung, der – im positiven Sinne – Verbürgerlichung, die heute in Rußland so viel Interesse hervorruft. Nachdem die Blütenträume eines kommunistischen Himmels auf Erden zerplatzt sind und sich eine allzu starke Anknüpfung an das Zarenreich aus verschiedenen Gründen verbietet (z.B. wegen seiner notorischen Reformunfähigkeit), sind es die Industriellen, Geschäftsleute, Ingenieure und Intellektuellen des frühen 20. Jahrhunderts, an denen sich die seit einigen Jahren entstehende Mittelschicht auf ihrer Suche nach historischen Vorbildern orientiert. Gefragt ist heute – auch unter Studenten – nicht mehr der große Gestus, der im Dunst einer verrauchten Hinterhausküche verkündete Aufruf zu einer Revolution, sondern das praktische und tatkräftige Wirken im Hier und Jetzt. Ausdruck dieser Tendenz ist auch die Wahl des einstigen Ministerpräsidenten Stolypin zum „zweitgrößten Russen der Geschichte“ im Dezember 2008. Heute hat der Geist der „Wechi“ Konjunktur, nicht jedoch irgendwelche abgehobenen Diskurse unter Intellektuellen (was letztere oft betrübt).

Und es sind, nebenbei bemerkt, mit Medwedew und Putin zwei maßgebliche Politiker in der RF, die genau diese Tendenzen erheblich befördert haben. Hatten Schulkinder zu Jelzins Regierungszeit noch angegeben, ihr größter Berufswunsch sei Bandit (Jungen) bzw. Prostituierte (Mädchen), so stehen heutzutage gutbürgerliche Berufe (wieder) weitaus höher in der Gunst. Ich persönlich halte dies für ein Zeichen der zunehmenden Gesundung Rußlands.

Doch jetzt zurück zu Schlögels Buch. Die rund 630 Seiten sind natürlich nicht in einem Zug zu lesen. Dafür eröffnet sich durch die sinnvolle Kapitelgliederung die Möglichkeit, den Text in leichter „verdaubaren“ Portionen zu genießen. Wie bei dem Autor üblich, ist das Niveau der Argumentation und der dargelegten Fakten sehr hoch. Und es eröffnet – ebenso wie das Standardwerk von Orlando Figes – den Einblick in eine der prägendsten Epochen der russischen Geschichte, die aus den o.g. Gründen heute für das Selbstverständnis der russischen Gesellschaft wichtiger geworden ist als die jahrzehntelang mystifizierte Oktoberrevolution.




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