Freitag, 4. Dezember 2009

Das schwierige Erbe der Wende


Das zwanzigjährige Jubiläum des Mauerfalls und deer politischen Wende in der DDR war ja eines der Hauptereignisse im Jahr 2009. Obgleich ich mich zu den „Gewinnern der Wende“ zählen darf (jede andere Bewertung wäre angesichts eines christlichen Elternhauses und der dort fehlenden Parteibücher ausgeschlossen), hatte ich bei den Feierlichkeiten doch gemischte Gefühle. Es ist gut, daß die Entwicklung so zur deutschen Einheit verlaufen ist, wie es dann 1989/90 der Fall war. Und es war gut, daß die sog. „Bürgerrechtler“ seither weitestgehend in der politischen Versenkung verschwunden sind. Denn das Erbe dieser Personen ist alles andere als unproblematisch. Sie waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um der politisch, ökonomisch und moralisch bereits bankrotten DDR den Todesstoß zu versetzen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Die Gründe für diese harsch wirkende Einschätzung will ich nachfolgend erläutern, wobei ich an diesen Text anknüpfe. Um es vorweg zu nehmen: Ich bin kein Linker und mir geht es nicht um ein Lob der DDR, sondern um das, was man (hochtrabend formuliert) historische Gerechtigkeit nennen könnte. Ich bin mir bewußt, daß ich damit Gefahr laufe, mich zwischen alle Stühle zu setzen.


Erstens: Die sog. „Bürgerrechtler“ leiden bis heute an einer notorischen Selbstüberschätzung.

Sehr gut kann man dies an dem meinen Lesern wohlbekannten Roman Grafe. Er hat kürzlich ein Buch mit dem Titel „Die Schuld der Mitläufer“ vorgelegt, in dem er die Mehrheit der DDR-Bürger bezichtigt, Mitschuld am SED-Regime zu sein, da sie sich zu passiv verhalten und die Regierung meistenteils hingenommen hätten. Nur die wenigen „Bürgerrechtler“ hätten Rückgrat bewiesen. Damit hat Grafe eines seiner Lieblingsthemen wieder aufgegriffen, mit dem er auch schon bei der Waffenrechtsdebatte für Verwunderung gesorgt hat: die bizarre Kollektivschuldthese. Wir erinnern uns: Grafe glaubt, dass jeder, der sich gegen „Unrecht“ nicht aktiv wehrt, daran genauso schuldig ist wie derjenige, der es aktiv ausführt. Diese Auffassung ist nicht nur aus moralphilosophischer Sicht zurückzuweisen, da die Welt viel zu komplex ist, um alle darin ablaufenden Vorgänge überblicken zu können. Dem Menschen würde so eine Last aufgebürdet, die er einfach nicht schultern kann.

Des weiteren stört mich die Selbstgerechtigkeit, mit der Grafe seine These vorträgt. Er sieht sich selbst als Widerstandskämpfer gegen alles Übel in der Welt – früher die DDR, heute die sog. „Waffenlobby“. D.h. er ist der „Gute“, alle, die anderer Meinung sind, sind nicht nur seine (theoretisch gleichwertigen) politischen Gegner, sondern darüber hinaus unmoralische Bösewichte, die es auszuschalten gilt, wenn man denn in einer „guten Welt“ leben will. Damit ist Grafes Weltanschauung potentiell totalitär, zielt sie doch auf die Verdrängung seiner Gegner aus dem politischen Diskurs – allerdings nicht durch argumentatives Überzeugen, sondern durch Repression. Dadurch wird der demokratischen politischen Kultur, die in der BRD ohnehin nicht besonders hoch entwickelt ist, ein schwerer Schlag versetzt.

Außerdem hat es einen schalen Beigeschmack, wenn ein „Bürgerrechtler“ im Bundestag auftritt und dabei fordert, eine bestimmte, ihm nicht genehme Bevölkerungsgruppe (nämlich die Legalwaffenbesitzer) ihrer Grundrechte zu berauben. (Deshalb gebrauche ich diese Bezeichnung hier nur in Anführungszeichen.)


Damit sind wir beim zweiten Punkt: Die sog. „Bürgerrechtler“ waren und sind tendenziell genauso diktatorisch, wie es das SED-Regime war.

Es kann auch gar nicht anders sein, sehen sich diese Damen und Herren doch selbst als Antagonisten dieses Regimes. Und sie sind es auch, quasi die zweite Seite derselben Medaille. Sie sind durch die Schule der DDR gegangen und können sich politische Machtausübung kaum anders vorstellen als mit den in der DDR gebräuchlichen Mittel und Methoden. Dazu zählt vor allem eine ausgeprägte Verachtung des Rechtsstaates. Von Bärbel Bohley stammt der Satz: „Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen.“ Anstatt einer „Nacht der langen Messer“ also der Gerichtssaal. Bohleys Entäuschung wird von vielen ihrer Gesinnungsgenossen geteilt, waren sie doch daran gehindert, es den früheren Machthabern mit gleicher Münze heimzuzahlen. (Nebenbei bemerkt: Das ist m.E. ein archaischer Trieb, den man als zivilisierter Mensch unter Kontrolle halten sollte.)

Ein hervorragendes Beispiel für die Verachtung des Rechtsstaates ist der ehemalige Erfurter Oberbürgermeister Manfred Ruge. Nach dem Schulamoklauf am 26.04.2002 setzte er aus lauter Selbstherrlichkeit für seine Stadt den Vollzug des geltenden Waffengesetzes außer Kraft, indem er sich weigerte, vor einer Neuregelungdes WaffG weiter waffenrechtliche Erlaubnisse auszustellen. Ferner wurden alle Legalwaffenbesitzer zu einer „Reihenuntersuchung“ ins Ordnungsamt gerufen, obwohl diese Maßnahme vom damals geltenden WaffG ebenfalls nicht gedeckt war. Was im Normalfall zu einem Aufschrei der Medien geführt hätte, wurde hier von der Öffentlichkeit anstandslos hingenommen, schließlich ging es ja gegen die pöse „Waffenlobby“.
Und Ruge fühlte sich moralisch dazu berechtigt, gegen das geltende Recht zu verstoßen. Bei ihm zeigt sich ebenso wie bei Grafe die ungesunde Moralisierung der Politik, die auch eine Folge der „Bürgerrechtsbewegung“ in der DDR ist. Recht und Gesetz werden nur dann als bindend angesehen, wenn sie zu den moralischen Ansichten eines Amtswalters passen. Genauso war es in der DDR: Im Zweifel ging dort ein Beschluß der SED dem staatlichen Recht vor.

Die Aufzählung der Fälle, in denen ein ehemaliger „Bürgerrechtler“ meinte, das Recht brechen zu dürfen, läßt sich fortsetzen. Etwa mit Heinz Eggert (CDU-Mitglied und notorischer Waffengegner). Als er im Frühjahr 1990 Landrat in Zittau geworden war, entließ er ohne Rücksicht auf die arbeitsrechtlichen Bestimmungen mehrere Mitarbeiter seiner Behörde (vgl. hier). Offenbar hielt Eggert sein Verhalten für einen revolutionären und damit legitimen Akt, denn auch in der Rückschau fehlt ihm jegliches Bedauern für seinen Rechtsbruch, statt dessen macht er angebliche SED-Verwicklungen der zuständigen Richter für die von ihm verlorenen Gerichtsprozesse verantwortlich. Und dieser Mann hat als Innenminister in Sachsen jahrelang über die Rechtstreue der dortigen Bürger gewacht!
Er hat, ebenso wie viele seiner Gesinnungsgenossen niemals gelernt, daß ein Gemeinwesen nur dann funktionieren kann, wenn es von allen Bürgern weitgehend akzeptierte Rechtsnormen gibt und diese auch beachtet werden. Im Zweifelsfall geht vielen sog. „Bürgerrechtlern“ (von welchen „Rechten“ reden die eigentlich?) ihre Privatmeinung über das für alle geltende Gesetz.


Das führt uns hin schon zum dritten Punkt: Die meisten „Bürgerrechtler“ haben im Herbst 1989 keineswegs für eine Staats- und Gesellschaftsordnung gekämpft, wie sie heute in Deutschland gegeben ist.

Das geht aus zahllosen Selbstzeugnissen dieser Herrschaften hervor. Ihnen schwebte wohl mehrheitlich eine Art Reformsozialismus, ggf. mit starker ökologischer Komponente, vor. An eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten, wie sie dann am 03.10.1990 vollzogen worden ist, hat fast keiner von Ihnen gedacht. Sie wollten die DDR nicht aufgeben, sondern umbauen. Eben parteiische Gerechtigkeit statt Rechtsstaat, aber nunmehr ohne die führende Rolle der SED. Das erklärt, weshalb viele der „Bürgerrechtler“ im wiedervereinigten Deutschland nie heimisch geworden sind. Und mich verwundert, daß diese ideologische Komponente heute zumeist übersehen wird (siehe auch hier).

Die „Bürgerrechtler“ haben in den 1980er Jahren zwar erheblich zur Erosion der DDR beigetragen, die Einheit unseres Vaterlandes und den Rechtsstaat, in dem wir heute trotz mancher Mängel leben dürfen, haben wir Deutschen jedoch vor allem der Eigendynamik zu verdanken, die sich seit November/Dezember 1989 entwickelt hat und weder von diesen Ökofundis und Reformsozialisten noch von Teilen der westdeutschen Intelligenzija (welche die Teilung am liebsten zementiert hätte) aufzuhalten war.


Viertens: Die Ereignisse der Jahre 1989/90 haben eine Vielzahl von Theologen in öffentliche Ämter gespült und so zu einer Hypermoralisierung der Politik beigetragen.

Diese „Theologenschwemme“ ist m.E. eine der übelsten Langzeitfolgen der Wende. Nicht, daß ich etwas gegen die Vertreter dieser Disziplin hätte. Doch mögen sie sich bitte auf das beschränken, was ihres Amtes ist (vgl. Sirach 3,24). Statt dessen äußern sich hierzulande Theologen zu allen möglichen politischen Fragen, ohne daß sie irgendeine Qualifikation dafür besitzen würden. Noch schlimmer ist es, wenn besagte Damen und Herren ein öffentliches Amt bekleiden und so tun, als wären sie für irgend etwas zuständig, obwohl sie in Wirklichkeit vor dem Problem stehen wie das berühmte Schwein vor dem Uhrwerk. Da helfen dann auch keine Bibelzitate und/oder zur Schau gestellte Gutmenschlichkeit weiter.


Fünftens: Die Revolution im Herbst 1989 war alles andere als friedlich.

Auf Bismarck geht das Diktum zurück, wonach die Welt nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse, sondern durch Eisen und Blut verändert werde. Dies trifft auch auf die Revolution im Herbst 1989 zu, denn auch dort ist – wie bei allen bedeutenden Umwälzungen – Blut geflossen. Zwar weniger als andernorts, aber immerhin.
Die „Bürgerrechtler“ haben jedoch, vermutlich um ihr pazifistisches Gewissen zu beruhigen, die Mär in die Welt gesetzt, daß im Herbst 1989 in der DDR eine „friedliche Revolution“ stattgefunden habe. Die Realität sah freilich anders aus. Und damit meine ich nicht die Storys von wild um sich prügelnden Volkspolizisten und „armen“ Demonstranten, die angeblich willkürlich festgenommen worden sind. Ich denke vielmehr an die Ereignisse in Berlin um den 7. Oktober 1989, als durchgedrehte Demonstranten Polizisten massiv mit Steinen beworfen haben – wohlwissend, daß auf seiten der VP keine Helme, sondern lediglich Schirmmützen getragen wurden. Somit haben die Protestler schwere Körperverletzungen und vielleicht sogar Tote billigend in Kauf genommen.

Zur selben Zeit hat sich in Dresden eine Gewaltorgie entladen, die wohl kaum jemand in der DDR vermutet hätte (ausführlich hier nachzulesen). Dutzende verletzte Ordnungskräfte, die mit Steinen und Brandsätzen beworfen wurden, umgestürzte und angezündete Autos und ein total verwüsteter Hauptbahnhof sind die Bilanz dieser Tage. Dort hat sich ein Mob ausgetobt, dem es keineswegs um Freiheit, sondern nur um das Gewalterlebnis ging. (Die aktuellen Ereignisse rund um Fußballspiele in Mitteldeutschland lassen grüßen … Stichwort: Hooligans.)
Natürlich paßt die Erinnerung daran nicht in das Selbstbild der vermeintlich friedlichen Demonstranten, die „Keine Gewalt!“ riefen und von pazifistischen Pfarrern angeführt worden. Dennoch gehört es zum Herbst 1989 dazu. Die „friedliche Revolution“ ist nicht mehr als ein Mythos.


Sechstens: Die Beschäftigung mit der Staatssicherheit ist mittlerweile zu einer fixen Idee geworden, die jedes vernünftige Maß verloren hat.

Wenn man sich die Stimmung der Jahre 1989/90 vergegenwärtigt, dann kann man das Interesse an der Arbeit und insbesondere den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit nachvollziehen, erschien diese Behörde vielen DDR-Bürgern doch als ein finsterer Koloß. Allerdings hat sich dieses Interesse seither verselbständigt und geradezu ungeheuerliche Dimensionen angenommen. Wissenschaftliche Arbeiten wie populäre Medienberichte zur DDR kommen kaum mehr ohne einen Bezug zum MfS aus. Demnächst erscheint sicher noch eine Abhandlung zum Einfluß der Stasi auf das Liebesleben der ostdeutschen Pflastersteine. ;-)

Damit wird das MfS jedoch maßlos überschätzt. Zum einen, weil es keineswegs die „Spinne im Netz“ ist, die geheime Kommandozentrale, aus der die gesamte DDR gesteuert wurde. Die bisweilen – auch unter Wissenschaftlern – anzutreffende Überzeugung, in den nachgelassenen Akten des MfS könnte man so etwas wie einen „DDR-Code“ entschlüsseln, der die gesamte Geschichtsschreibung des ostdeutschen Teilstaates über den Haufen wirft, ist absurd. Laut ihrem Selbstbekenntnis war das MfS „Schild und Schwert der Partei“ – also der SED. In deren Gremien (Politbüro, Sicherheitskommission, Abteilung für Sicherheitsfragen) sowie im Nationalen Verteidigungsrat wurden alle wichtigen Entscheidungen gefällt. Erich Mielke war durchaus kein „Schattendiktator“. (Vgl. dazu auch Walter Süß: Das Verhältnis von SED und Staatssicherheit, 2. Aufl., Berlin 1998.)

Ferner sollte man die Wirkung des MfS auf das Alltagsleben der DDR-Bürger nicht überschätzen. Wer hatte denn mit denen zu tun? Minderheiten wie z.B. Ausreisewillige, Christen und andere ja, aber sonst? Die meisten Durchschnittsbürger waren doch von der Arbeit des MfS nicht stärker betroffen als die heutigen Bundesbürger von Verfassungsschutz, MAD und BND. Und wenn man das MfS nüchtern betrachtet, dann wird man sich der Erkenntnis nicht verschließen können, daß es in weiten Teilen ein normaler europäischer Nachrichtendienst war.
Ich empfinde es als befremdlich, wenn tendenziell jeder ordinäre Schwerkriminelle, der vom MfS festgenommen worden ist, zum Opfer politischer Verfolgung stilisiert wird. Es ist weiters ein Fehler der „Bürgerrechtler“, ihre eigenen Erfahrungen als oppositionelle Kleingruppe in der DDR zu verallgemeinern und so zu tun, als hätten alle Ostdeutschen in beständiger Angst vor einer Einlieferung nach Hohenschönhausen gelebt.


Siebentens: Ja, die DDR war ein Unrechtsstaat. Allerdings ist dieses Urteil kein Anlaß für westdeutsche „Kalte Krieger“, um in Arroganz und Selbstgefälligkeit zu versinken.

Ein Beispiel mag dies illustrieren. Gemäß Art. 31 der DDR-Verfassung von 1968 war das Fernmeldegeheimnis unverletzbar und durfte nur auf einer gesetzlichen Grundlage eingeschränkt werden, „wenn es die Sicherheit des sozialistischen Staates oder eine strafrechtliche Verfolgung erfordern“. Das hört sich nicht schlecht an. Jedoch ist ein solches Gesetz in der DDR erst im Jahre 1979 erlassen worden (§ 115 Abs. 4 StPO). Somit war die gesamte Fernmeldeüberwachung des MfS, zumindest zwischen 1968 und 1979, rechtswidrig – wohlgemerkt: nach DDR-Recht! Und für die Zeit nach 1979 ist es zweifelhaft, ob sich das MfS immer an die Vorgaben des § 115 IV StPO gehalten hat.

Aber auf der westlichen Seite des „Eisernen Vorhangs“ sah es nur wenig besser aus, denn jahrzehntelang haben auch die Nachrichtendienste der BRD ohne (hinreichende) Rechtsgrundlagen in die Grundrechte der Bürger eingegriffen. Zwar hieß es bereits in der Urfassung des Grundgesetzes von 1949:
"Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. Beschränkungen dürfen nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden." (Art. 10)
Ein derartiges Gesetz, welches die TKÜ der Nachrichtendienste zugelassen hätte, ist jedoch erst 1968 erlassen worden (G-10-Gesetz). Parallel dazu wurde Art. 10 GG neu gefaßt und der heutige Abs. 2 eingefügt. Doch vor 1968 haben die westdeutschen Nachrichtendienste natürlich den Telefon- und Funkverkehr abgehört. Gestützt wurden diese Maßnahmen auf – man höre und staune – Besatzungsrecht. Denn Verfassungsschutz & Co. seien insoweit nicht etwa Staatsorgane der BRD, die deren Recht unterlägen, sondern Hilfsorgane der Besatzungsmächte, für die demzufolge deren Anordnungen gelten würden (nachlesen kann man dies in den Bundestagsprotokollen der 1960er Jahre, als über die Notstandsgesetze diskutiert wurde). (Soviel nebenbei auch zur nicht vorhandenen Souveränität der Bundesrepublik.)
Vom G-10-Gesetz war jedoch nur ein Teil der nachrichtendienstlichen Tätigkeit erfaßt. Auf Bundesebene existierte lediglich für den Verfassungsschutz seit 1950 eine gesetzliche Regelung. Erst im Jahre 1990 folgten das MAD-Gesetz und das BND-Gesetz.


Achtens: Die Übernahme von Amtswaltern der früheren DDR in den öffentlichen Dienst des wiedervereinigten Deutschlands stellt m.E. keine belastende Hypothek dar.

Da ich über gewisse Erfahrungen im öffentlichen Dienst verfüge darf ich mir dieses Urteil erlauben, auch wenn es für manche erstaunlich klingen mag. Diese Angestellten und Beamten machen auch das, was sie vor 1990 getan haben. Dabei konnte ich keine ausgeprägte DDR-Nostalgie beobachten. Und sie sind auch keine stärkeren „Korinthenkacker“ als ihre aus Westdeutschland importierten Kollegen. ;-) Diesen Damen und Herren fehlt – im Gegensatz zu den „Bürgerrechtlern“ – die „versteckte Agenda“; die meisten würden es sich niemals wagen, ihre Privatmeinung über das geltende Recht zu stellen.

Des weiteren lehrt die historische Erfahrung, daß kein Staat und kein politisches System der Moderne auf die Träger des Herrschaftswissens seines Vorgängers verzichten konnte. Sowohl die BRD als auch die DDR (wenngleich etwas weniger) haben nach 1945 auf erfahrenes Personal aus der Zeit des Dritten Reiches zurückgegriffen. Desgleichen kam auch die Weimarer Republik nicht ohne ehemals monarchische Beamte und Offiziere aus. Und selbst nach einem so einschneidenden Umsturz wie der Oktoberrevolution 1917 haben die Bolschewiki hunderttausende zaristischer Amtsträger wieder in Dienst gestellt (darunter fast 200 Generäle).


Neuntens: Der derzeitige politische Erfolg der Linkspartei ist keine Folge vermeintlicher DDR-Nostalgie.

Wenn manche „Wessis“ meinen, nur frühere SED-Mitglieder würden heute die Linkspartei wählen und dementsprechend fordern, man solle doch diese Wähler aus Deutschland verbannen, dann machen sie es erheblich sich zu einfach. Ich persönlich kenne Leute, die vor zehn oder fünfzehn Jahren niemals die PDS gewählt hätten, es heute jedoch tun. Es muß dafür also andere Gründe als „Ostalgie“ oder Unbelehrbarkeit geben. Die Linken geben Antworten auf aktuelle politische Probleme, die offenbar vielen unserer Mitbürger einleuchtend erscheinen. Es geht dieser Partei keineswegs um eine Wiederherstellung der untergegangenen DDR, sondern um politische und wirtschaftliche Fragen des Jahres 2009. Daß ich persönlich diese Partei nicht unterstütze, hängt damit zusammen, daß mich ihre Antworten nicht befriedigen. Dennoch kann man die Probleme, die von ihr thematisiert werden, nicht einfach vom Tisch wischen – auch, wenn diese Erkenntnis unangenehm sein mag.
Genauso wie der Fehlschlag des Kommunismus und die unter seiner Herrschaft begangenen Verbrechen nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, daß es im 19. und 20. Jahrhundert tatsächlich erhebliche soziale Mißstände gegeben hat, so darf die Abneigung gegen die heutige Linkspartei nicht den Blick auf die von ihr aufgeworfenen Fragen verstellen. Auch, wenn sich die Antworten (hoffentlich) von denen aus dem Karl-Liebknecht-Haus unterscheiden.
Schließlich sind Forderungen nach Kollektivstrafen gegen Linke Ausdruck einer Bürgerkriegsgesinnung, die während des Kalten Krieges möglicherweise berechtigt war, heute jedoch nur noch anachronistisch ist.


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