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Wir wollen annehmen, daß in einer Stadt, in einem Staate noch eine gewisse Anzahl von wirklich freien Männern lebt. In diesem Falle würde der Verfassungsbruch von einem starken Risiko begleitet sein. Insofern ließe sich die Theorie der Kollektivschuld stützen: die Möglichkeit der Rechtsverletzung steht im genauen Verhältnis zur Freiheit, auf die sie stößt. Ein Angriff auf die Unverletzbarkeit, ja Heiligkeit der Wohnung zum Beispiel wäre im alten Island unmöglich gewesen in jenen Formen, wie er im Berlin von 1933 inmitten einer Millionenbevölkerung als reine Verwaltungsmaßnahme möglich war. Als rühmliche Ausnahme verdient ein junger Sozialdemokrat Erwähnung, der im Hausflur seiner Mietwohnung ein halbes Dutzend sogenannter Hilfspolizisten [der SA, Anm. K.] erschoß. Der war noch der substantiellen, der altgermanischen Freiheit teilhaftig, die seine Gegner theoretisch feierten. Das hatte er natürlich nicht aus seinem Parteiprogramm gelernt. Jedenfalls gehörte er nicht zu jenen, von denen Leon Bloy sagt, daß sie zum Rechtsanwalt laufen, während ihre Mutter vergewaltigt wird.
Wenn wir nun ferner annehmen wollen, daß in jeder Berliner Straße auch nur mit einem solchen Falle zu rechnen gewesen wäre, dann hätten die Dinge anders ausgesehen. Lange Zeiten der Ruhe begünstigen gewisse optische Täuschungen. Zu ihnen gehört die Annahme, daß sich die Unverletzbarkeit der Wohnung auf die Verfassung gründe, durch sie gesichert sei. In Wirklichkeit gründet sie sich auf den Familienvater, der, von seinen Söhnen begleitet, mit der Axt in der Tür erscheint. Nur wird diese Wahrheit nicht immer sichtbar und soll auch keinen Einwand gegen Verfassungen abgeben. Es gilt das alte Wort: „Der Mann steht für den Eid, nicht aber der Eid für den Mann.“ Hier liegt einer der Gründe, aus denen die neue Legislatur im Volke auf so geringe Anteilnahme stößt. Das mit der Wohnung liest sich nicht übel, nur leben wir in Zeiten, in denen ein Beamter dem anderen die Klinke in die Hand drückt.
[…]" (S. 73 f.).
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Wichtiger ist die Verwirklichung des alten Grundsatzes, daß der freie Mann bewaffnet sei, und zwar nicht mit Waffen, die in Zeughäusern und Kasernen aufbewahrt werden, sondern die er im Hause, in seiner Wohnung führt. Das wird auch auf die Grundrechte zurückwirken.
[…]" (S. 77).
Viele der in diesem Buch gemachten Diagnosen treffen auch heute - 58 Jahre nach der Veröffentlichung - zu, oftmals sogar noch in verschärfter Form, wenn man etwa an unsere Abhängigkeit von der technischen "Daseinsvorsorge" durch "kritische Infrastrukturen" bedenkt. Und während in den "Marmorklippen" - die dem "Waldgang" vom Thema her ähneln - noch der rein geistige Widerstand gegen äußere Zumutungen gerühmt wird, ist Jünger im "Waldgang" bereit, konkretere Konsequenzen zu ziehen, ohne es freilich bei solchen Handgreiflichkeiten bewenden zu lassen.
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