Montag, 24. Mai 2010
Söldner oder Bürger in Uniform?
Der 12. Juli des Jahres 1871 war ein stürmischer Tag in New York. Stürmisch zumindest im politischen Sinne, denn anläßlich eines politischen Aufzuges kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen protestantischen und katholischen Einwanderern aus Irland. Mittendrin: Mehrere Regimenter der Nationalgarde des Staates New York, welche die Ausschreitungen eindämmen sollen. Am Ende der "Orange Riots" sind Dutzende Tote und Hunderte Verletzte zu beklagen. Mitverantwortlich dafür war der schlechte Ausbildungszustand der Nationalgardisten. Dies gab den Anstoß für die Gründung jener Organisation, die wir heute unter dem Namen National Rifle Association (NRA) kennen. Die Gründerväter - William Church und George Wingate - wollten insbesondere die Mängel im Schießwesen der Bürgermiliz abbauen. So gingen die Landesverteidigung und der Schießsport eine langandauernde Symbiose ein, für die heute in den USA vor allem das Civilian Marksmanship Program (CMP) mit den National Matches in Camp Perry als sportlichem Höhepunkt steht. Schnitt.
Im 19. Jahrhundert hatten sich im heutigen Südafrika zwei Burenstaaten, die von den Nachfahren niederländischer Einwanderer gegeründet worden waren, etabliert: Transvaal und der Oranje-Freistaat. Die meisten Buren waren Landwirte und somit gehörte die Jagd zu ihren alltäglichen Beschäftigungen, wobei die Munitionskosten zu einem sparsamen Verbrauch und damit zu treffsicherem Schießen zwangen. Ein Bure berichtete später aus seiner Jugend, wie ihm sein Vater ein Gewehr und eine Patrone gab - verbunden mit dem Auftrag, ein Tier zu erlegen, um den Kochtopf zu füllen. Und er hat seinen Vater nicht enttäuscht (anderenfalls hätte es vermutlich Prügel gegeben).
Als 1899 der Zweite Burenkrieg ausbrach, lehrten die Buren den einrückenden Truppen Ihrer britannischen Majestät das Fürchten. Sie waren nicht nur hervorragende Schützen, sondern mit dem Mausergewehr auch noch exzellent bewaffnet - und damit den Briten nicht nur ebenbürtig, sondern partiell überlegen. Im Dezember 1899 verbluteten vor den Magersfontein-Bergen über tausend englische Soldaten, wohingegen die zahlenmäßig schwächeren Bureneinheiten kaum 300 Mann verloren hatten. Und hier spielte das vollautomatische Maschinengewehr, das später im Russisch-japanischen Krieg (1905/05) und im Ersten Weltkrieg (1914-1918) so gewaltige Verluste fordern sollte, noch keine Rolle.
Doch während es sich bei den afrikaanischen Soldaten um exzellente Schützen handelte, hatte man in der britischen Armee (wie in den meisten europäischen Armeen zu Beginn des 20. Jh.!) den Bajonettangriff favorisiert. Um einen solchen erfolgreich durchführen zu können, muß man jedoch erst einmal auf Nahkampfweite an den Gegner herankommen. Wie miserabel die englische Schießausbildung war, mag die folgende Zahl illustrieren: Noch anno 1902 trafen bei einem Armeewettkampf von 1100 abgegebenen Schüssen nur fünf die Scheibe. Kein Wunder, mit den etatmäßigen 30 Schuß pro Mann für drei Jahre lassen sich keine treffsicheren Schützen heranbilden.
Welche Konsequenzen zogen die Briten aus ihren anfänglichen Niederlagen im Burenkrieg? Unter anderem wurde die Schießausbildung verbessert. Zunächst sammelten die Offiziere Geld für zusätzliche Übungsmunition. Die bereits Ende der 1850er Jahre unter den (ebenfalls verheerenden) Eindrücken des Krimkrieges entstandene Freiwilligenbewegung erhielt neuen Auftrieb. In diesem Kontext ist auch die 1859 gegründete britische NRA zu sehen, die sich - als zivile Organisation - der Pflege des Gewehrschießens gewidmet hat. Um die Jahrhundertwende kamen noch Wettkämpfe mit den damals neuen Kleinkalibergewehren sowie entsprechende Vereine hinzu. So gehörten der Society Of Miniature Rifle Clubs im Jahre 1914 über 200.000 Mitglieder an. Dies alles geschah auch mit dem Ziel, die Verteidigung des Empires sicherzustellen. Schnitt.
Wir schreiben den Sommer 1941. Deutsche Truppen stoßen tief in die Sowjetunion vor. In der seit 1927 existierenden sowjetischen Wehrsportorganisation Osoaviachim wird auch der Schießsport gepflegt - und zwar nicht nur von Männern, sondern - die Gleichberechtigung schreitet voran - auch von zahlreichen Frauen. Zwar war der Zweite Weltkrieg erheblich stärker technisiert (um nicht zu sagen: industrialisiert) als der Burenkrieg, weshalb den Einzelschützen immer weniger Gewicht zukommt. Doch kann man auch unter diesen Umständen nicht ganz auf den gezielten Einzelschuß verzichten.
Mithin hat man in der Roten Armee relativ viel Wert auf das Scharfschützenwesen gelegt. Unter den sowjetischen "Snajpery" waren im Jahr 1943 über 1.000 weibliche Soldaten, die freiwillig der Roten Armee beigetreten waren. Die meisten von ihnen dürften so wie Ljudmila Pawlitschenko in der Osoaviachim mit dem Schießen, das im Notfall auch der Landesverteidigung dienen konnte, begonnen haben. Schnitt.
Auch nach 1945 wurde und wird in vielen europäischen Staaten den grundsätzlich zivilen Schieß-Sport unterstützt, um die Bürger auch zu guten Verteidigern des Vaterlandes heranzuziehen. Zu nennen sind hier etwa die Jungschützenkurse in der Schweiz, die enge Anbindung der Schützenverbände an die Verteidigungsministerien in den skandinavischen Staaten. Oder in unserem Nachbarland Polen die Liga zur Verteidigung der Heimat (LOK), welche unter anderem als Schießsportverband fungiert (siehe z.B. hier), sowie die von den Schulbehörden organisierten Schülerwettbewerbe im Gewehrschießen namens "O Srebrne Muszkiety" (dt.: Über silberne Musketen), die von lokalen Wettkämpfen bis hin zu polnischen Meisterschaften gehen. Schnitt.
Frühjahr 2010, Nordafghanistan. Deutsche Soldaten werden zunehmend in heftige Gefechte mit bewaffneten Einheimischen verwickelt; die Zahl der Gefallenen steigt. Unter den dabei in der Bundeswehr zutage getretenen Mängeln ist Medienberichten zufolge auch die unzureichende Ausbildung der eingesetzten Soldaten an ihren Handfeuerwaffen. In der Heimat müsse gespart werden, weshalb auch die Schießausbildung häufig auf der Strecke bliebe.
Was müßte jetzt eigentlich in Deutschland passieren, wenn man die soeben skizzierten Beispiele aus anderen Staaten als Maßstab nähme? Patriotische und wehrwillige Bürger sowie die Schießsportverbände würden mit dem Bundesverteidigungsministerium kooperieren, um angehenden Rekruten noch vor ihrer Einberufung ein erstes Schießtraining zuteil werden zu lassen. Doch dergleichen geschieht in der Bundesrepublik Deutschland anno 2010 nicht und wird wohl auch in Zukunft nicht geschehen. Das vielbeschworene bürgerschaftliche Engagement ist in dieser Richtung nicht gefragt. Warum?
Erstens ist vielen Deutschen alles, was im weitesten Sinne mit Waffen und Militär zu tun hat, suspekt geworden. Die Schießsportverbände tun daher (klugerweise) alles, um irgendwelche paramilitärischen Anklänge zu vermeiden. Selbst der Reservistenverband bemüht sich um ein betont ziviles, unmilitärisches Erscheinungsbild. Aus der alten preußischen Idee des Staatsbürgers in Uniform, dem (zugespitzten) Ideal des "Volks in Waffen", ist heute der bestenfalls temporär tarnanzugtragende Zivilist geworden. Diese Entwicklung ist in der Sache zwar bedauerlich, sollte nach zwei verlorenen Weltkriegen jedoch keine allzu große Verwunderung hervorrufen.
Freilich kann man so keine Armee führen und unterstützen, die mittlerweile auf weltweite Einsätze ausgerichtet ist. Der Soldat einer solchen Einsatzarmee muß Profi sein. Dadurch vergrößert sich allerdings seine Distanz zur deutschen Mehrheitsgesellschaft deutlich. Die zivile Gesellschaft kann damit leben, solange keine Wehrpflichtigen gezwungen werden, im Ausland zu kämpfen. Das Nebeneinander zwischen Armee und Gesellschaft ist auch für die politische Führung der Bundeswehr kein wirkliches Problem. Denn so kann man die Truppe fast beliebig einsetzen, ohne allzu viel öffentlichen Widerstand fürchten zu müssen. Wenn der Wunsch mancher Politiker wahr würde und sich die Deutschen tatsächlich intensiv für das Schicksal unserer Soldaten in Afghanistan interessieren würden, dann hätten wir vermutlich bald Sitzblockaden vor Kasernen und andere pazifistische Demonstrationen zu erwarten.
Sowohl Volk als auch Politik sind mit dieser Sonderlage der Einsatzarmee zufrieden, wobei deren Soldaten wohl eher als eine Art "Söldner" denn als Mitbürger und Nachbarn gesehen werden. Zu diesem Image trägt natürlich die Art und Weise der Personalgewinnung bei, die (zumindest hier in Ostdeutschland) nicht wenige junge Männer vornehmlich aus finanziellen Erwägungen in die Streitkräfte lockt. Letzteres ist weder schlimm noch unmoralisch, aber es trägt zwangsläufig zur Entfremdung zwischen Front und Heimat bei. Es sind eben nicht "unsere Jungs", die bei Kunduz fallen oder verwundet werden, sondern zumeist anonyme Staatsangestellte, die freiwillig einen Risikoberuf gewählt haben und dafür sehr gut bezahlt werden. (Und die, die unversehrt zurückgekommen sind, haben bisweilen keine Scheu, ihren neuerworbenen Wohlstand zur Schau zu stellen.)
Dazu kommt noch die extreme Unklarheit hinsichtlich der politischen Ziele, die in Afghanistan verfolgt werden. Weshalb stehen im Jahr 2010 deutsche Truppen noch am Hindukusch? Um den afghanischen Frauen den Schleier vom Gesicht zu reißen? Um ihren Töchtern eine Schulbildung zu ermöglichen? Um den seit Jahren abgetauchten Osama bin Laden zu fangen? Um lokale Guerillas und Banditen zu bekämpfen? Um das (zunehmend unzuverlässige) Regime von Hamid Karzai und diverse regionale Fürsten zu stützen? Um die Durchsetzung des islamischen Rechts zu ermöglichen (vgl. Artikel 3 der afghanischen Verfassung von 2004) - Todesstrafe für Konvertiten inklusive? Oder gar, um den Opiumanbau und -handel zu schützen?
Aus den genannten Gründen werden auch sämtliche Initiativen zur Stärkung des zivil-militärischen Verhältnisses wie etwa die gelben Bänder weithin erfolglos bleiben, so lobenswert sie auch sind. Die derzeitige Situation ist den meisten in Deutschland ganz recht, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Unter die Räder kommen dabei natürlich die betroffenen Soldaten und ihre Familien. Doch das sind zu wenige Wähler, um politisch relevant zu werden.
Somit wird es wohl in der absehbaren Zukunft keine öffentlich wirksamen Denkmäler für gefallene Bundeswehrsoldaten geben, von einem Grabmal des unbekannten Soldaten mitsamt Ewiger Flamme wie z.B. in Paris oder Moskau ganz zu schweigen. Es werden mit Sicherheit keine deutschen Schulen nach in Afghanistan Gefallenen benannt werden, schließlich leben wir in einer "post-heroischen" Gesellschaft (wie selbst BW-Angehörige nicht ohne Stolz verkünden).
Und es wird mit ebensolcher Sicherheit keine, wie auch immer geartete vormilitärische (Schieß-)Ausbildung für junge Männer und Frauen geben, denn Waffen sind grundsätzlich böse, das Militär ebenso und wer sich mit beidem beschäftigt, gehört entweder in die geschlossene Anstalt oder in ein Feldlager im Wüstensand. Aber auf jeden Fall nicht in das heutige Deutschland, das lieber auf "Friedenserziehung" und "gewaltlose Konfliktprävention" setzt. Und wenn unsere unzureichend geschulten Soldaten im Mittleren Osten krepieren? Sei's drum, denn laut Bundesminister a.D. Joschka Fischer gilt bekanntlich die Devise: "Deutsche Helden müßte die Welt, tollwütigen Hunden gleich, einfach totschlagen".
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Fotos: Library of Congress, www.maxpenson.com, www.zstslubice.edu.pl/muszkiet, Reuters u.a.
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