Dienstag, 19. Januar 2010

Schluß mit dem Gewalttabu

Vor zwei Monaten haben die Visier-Redakteure wieder einmal einen kleinen Schatz auf dem deutschen Buchmarkt ausgegraben. Verfaßt wurde die streitbare Schrift mit dem Titel „Schluss mit dem Gewalt-Tabu! – Warum Kinder ballern und sich prügeln müssen“ vom hessischen Pfarrer Thomas Hartmann. Er will damit einen Kontrapunkt zu dem seiner Ansicht nach falschen gesellschaftlichen Konsens setzen, wonach man Kinder und Jugendliche unbedingt von allem, was irgendwie nach Gewalt aussehen könnte, fernhalten muß, wenn man keine Amokläufer erhalten wolle. Also keine Zinnsoldaten und Spielzeugpanzer, keine Stöcke und Computerspiele, keine Raufereien auf dem Schulhof und – Gott bewahre! – keine Schuß- oder auch nur Spielzeugwaffen.

Hartmann geht den ideologischen Grundlagen dieser Meinung von Rousseaus „Emile“ bis zur Friedensbewegung der 1970er und 80er Jahre nach. Dabei arbeitet er heraus, daß die gesamte „Friedenspädagogik“ auf höchst ungesicherten wissenschaftlichen Grundlagen steht. Viele Annahmen gleichen eher Glaubenssätzen als einigermaßen empirisch belegbaren Erkenntnissen. Es ist eben keineswegs erwiesen, daß Kinder und Jugendliche, die mit Kriegsspielzeug oder „Counter Strike“ spielen, deshalb gewalttätiger sind als ihre nicht entsprechend „vorbelasteten“ Altersgenossen.
Besonders wichtig waren für mich Hartmanns umfangreichen theologischen Ausführungen. Er weist u.a. nach, daß die Bibel keineswegs als pazifistisches Buch verstanden werden darf. Im Gegenteil: sie lehrt uns, daß Gewalt zum Menschsein dazugehört. Insbesondere das häufig gebrauchte Wort „Schwerter zu Pflugscharen“ aus dem Buch des Propheten Micha eigne sich wegen seines prophetischen Charakters, der in die ferne Zukunft des Gottesreiches verweist, nicht zur Begründung pazifistischer Politik im Hier und Jetzt. Darauf hatte auch ich schon hingewiesen.

Dies darf natürlich nicht in dem Sinne mißverstanden werden, daß der Autor zu grenzenlosen Prügelorgien aufrufen würde. Mitnichten! Vielmehr geht es ihm – im Rahmen der Erziehung – um die Unterscheidung von spielerischer und zerstörerischer Gewalt. Letztere ist nach Möglichkeit von den Erwachsenen zu unterbinden. Erstere ist hingegen wichtig für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, ermöglicht sie doch das Austesten von Grenzen, das Bestehen von Abenteuern (zumindest bei Jungen ein natürlicher Drang) und – ganz wichtig – das spielerische Ausleben und damit den Abbau von Aggressionen. Denn Studien haben gezeigt, daß Kinder, die letzteres nicht tun dürfen, irgendwann wirklich „böse“ werden und zur zerstörerischen Gewalt greifen.
Wenn man Hartmanns These zuspitzen möchte, könnte man sagen: Lieber ein paar Raufereien, bei denen sich alle nach einer halben Stunde wieder vertragen, als eine Schlägerei, bei der hinterher der Rettungsdienst anrücken muß.

Hinter der Argumentation Hartmanns steht m.E. der folgende Gedanke, der mich (gewissermaßen als einer Privattheorie ;-)) schon einige Jahre beschäftigt: Gewalt ist gleichsam natürlich und gehört zum Menschsein dazu. Man kann sie niemals aus der menschlichen Gesellschaft herausdrängen. Je intensiver dies versucht wird, um so heftiger werden die Gegenbewegungen werden. Es kommt somit darauf an, die Gewalt innerhalb einer Gesellschaft einzugrenzen und in produktive, möglichst nicht zerstörerische Bahnen zu lenken. Es ist eine echte Kulturleistung, wenn dies in einer Gesellschaft gelungen ist – dies merkt man um so stärker, je mehr es daran fehlt und uns statt dessen eine fast schon barbarisch zu nennende rohe Gewalt entgegentritt.

Historisch gesehen muß man hier zunächst den Begriff der Ritterlichkeit nennen, der während des europäischen Mittelalters und bis ins 20. Jahrhundert hinein wirksam war und vornehmlich im Bereich der Kriegführung einen bestimmten Verhaltenskodex erzeugt hat, der noch in den großen Kodifikationen des ausgehenden 19. Jahrhunderts (z.B. der HLKO) sichtbar war. Der Historiker Martin van Creveld schreibt dazu in seinem Buch „Die Zukunft des Krieges“:
"Die verschiedenen Gesellschaften zogen zu verschiedenen Zeiten natürlich auf sehr unterschiedliche Weise die Trennlinie zwischen Krieg und Mord, die Trennlinie selbst ist jedoch unerläßlich. Die einen verdienen es, ausgezeichnet zu werden, die anderen gehängt. Wo diese Unterscheidung nicht eingehalten wird, fällt die Gesellschaft auseinander, und der Krieg – im Gegensatz zur reinen wahllosen Gewalt – wird unmöglich." (S. 140 f.)
Van Creveld rekurriert insofern auch auf den Juristen Carl Schmitt, der in seinen völkerrechtlichen Arbeiten immer wieder auf die pazifierende Rolle des traditionellen europäischen Völkerrechts, wie es sich nach dem Dreißigjährigen Krieg herausgebildet hat, hingewiesen hat. (Am aussagekräftigsten sind insofern „Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum“ und „Frieden oder Pazifismus“.) Schmitt spricht insofern von der „Einhegung des Krieges“ (im Sinne einer Begrenzung) durch das Völkerrecht, nicht seine Verunmöglichung. Als gleichsam goldenes Zeitalter dieses Konzeptes erscheint das 18. Jahrhundert mit seinen Kabinettskriegen, die sich in Art und Ausmaß deutlich vom bisweilen „totalen“ Konflikt der Jahre 1618 bis 1648 unterschieden.

Diese These läßt sich vom Feld der Außenpolitik auch auf den innerstaatlichen Bereich übertragen. Gemeine Verbrechen wie Raub, Mord etc. sind wohl in allen menschlichen Gesellschaften geächtet. Als Mittel der Konfliktlösung waren hingegen jahrhundertelang Ehrenhändel allgemein akzeptiert, wenn auch vom Gesetzgeber oftmals untersagt. Die Institution des Duells hat etwas Faszinierendes: Man schlägt nicht wild aufeinander ein, man sticht seinen Gegner nicht meuchlings ab oder schießt ihn einfach über den Haufen. Nein, man begegnet sich zivilisiert, beachtet ein umfangreiches Regelwerk, benennt Sekundanten, ruft einen Arzt usw. Gewalttätige Konfliktaustragung – ja, aber kein wahlloses oder heimtückisches Dahinmorden. Es mag sich nun jeder selbst die Frage beantworten, ob das gesetzliche Verbot des Duells und dessen faktisches Verschwinden die deutsche Gesellschaft friedlicher gemacht hat.

Wie man sieht, handelt es sich dabei um spannende Fragen, die über konkrete Probleme wie etwa die Verschärfung des Waffenrechts oder das Verbot von Computerspielen weit hinausgehen. Als erwiesen darf jedenfalls gelten: Das Verdrängen und Verbieten von „eingehegten“, bisher gesellschaftlich akzeptierten Formen der Gewaltausübung –insbesondere der rein spielerischen, bei der niemand zu Schaden kommt – führt keineswegs zu einer gewaltlosen Gesellschaft (auch wenn man diese für ein hehres Ziel halten mag), sondern bestenfalls zu einer Transformation, die tendenziell erheblich destruktivere Formen hervorbringt.


Verwandte Beiträge:
"Schwerter zu Pflugscharen"
Anatomie der Anti-Waffen-Lobby
Frohes neues Jahr!
Waffenphilosophie
blog comments powered by Disqus