Wenn man manche Verlautbarungen deutscher Politiker und Journalisten hört, die sich auf Rußland beziehen, dann entstehen zwei Eindrücke: Erstens ist meist nur geringes, im besten Falle oberflächliches Wissen über die Situation in der Rußländischen Föderation vorhanden, was zu Fehleinschätzungen führt. Und zweitens hat die Erwähnung des Namens von Wladimir Putin meist nichts mit der realen Person und ihrer Politik zu tun, sondern dient als negativ besetzte Chiffre in einem rein innerdeutschen Diskurs. Dadurch entsteht der Eindruck, daß die vom Historiker Dietrich Geyer 1986 konstatierte „Konsens stiftende Kraft der Rußlandfeindschaft“ in der deutschen Gesellschaft nach wie vor existiert, selbst wenn die konkreten Anlässe banal sein mögen.
So wurde z.B. im Deutschen Waffenjournal (Nr. 7/2010, S. 9) dem mittlerweile abgewählten BDMP-Präsidenten Volkmar Schilling vorgeworfen, in seinem Verband nach dem „Modell Putin“ herrschen zu wollen. Was als schlagfertiges Argument gedacht war, entpuppt sich jedoch bei näherem Hinsehen als Flop. Denn erstens hat Wladimir Putin – im Gegensatz zu Schilling – nicht zu Verfahrenstricks gegriffen, um im höchsten Amt zu bleiben. Und zweitens erfreut sich Wladimir Wladimirowitsch seit Jahren einer konstant hohen Zustimmung der Bevölkerung. Auch insoweit kann man ihn nicht mit Schilling vergleichen, war dieser Mann dem Vernehmen nach doch schon seit Jahren im gesamten BDMP höchst unbeliebt.
Zweites Beispiel, ebenfalls aus dem DWJ, diesmal Heft 10/2010, S. 53. In seinem Bericht von der ISSF-Weltmeisterschaft verstieg sich der Herausgeber Walter Schulz zu einem Satz, nach dessen Lektüre ich mir verwundert die Augen gerieben habe:
"[…]Zur Situation des chinesischen Schießsports kann ich mich nicht äußern, wohl aber zu der des russischen (vgl. auch hier). Dort sind viele Faktoren sowohl im Breiten- als auch im Leistungssport deutlich schlechter als in Deutschland. Es stehen bei weitem nicht genügend moderne Matchwaffen zur Verfügung, so daß im Breiten- und Jugendbereich großteils noch mit Knicklauf-Luftgewehren und jahrzehntealten (und entsprechend „ausgenudelten“) KK-Waffen geschossen werden muß. Bei den Schießständen sieht es kaum besser aus. Die Anzahl der Stände, die qualitativ einem internationalen Standard entsprechen, dürfte gering sein. Ohne genaue Zahlen zu kennen, gehe ich davon aus, daß in der gesamten RF kaum mehr als ein Dutzend Stände mit elektronischer Trefferauswertung existieren (mindestens zwei davon befinden sich in der Umgebung Moskaus). Und wenn man den Berichten russischer Kollegen glauben schenken darf, dann trainieren selbst Mitglieder von Auswahlmannschaften bisweilen unter Bedingungen, die kein deutscher Spitzenschütze akzeptieren würde.
Dass von den deutschen Schützen nicht eine Medaillenflut wie von den Chinesen oder Russen zu erwarten sein kann, ist selbstverständlich. Zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen für die Spitzenschützen, aber auch bei der Förderung und Auswahl des Nachwuchses.
[…]"
Vor diesem Hintergrund wurden die Sportschützen in der RF selbst von dem hervorragenden Abschneiden ihrer Mannschaft in München überrascht – man hatte eher ein Desaster erwartet.
Was sind denn die – verglichen mit Deutschland – besonders positiven Faktoren im russischen Schießsport? Die Tatsache, daß ein Teil der WM-Teilnehmer de facto Profisportler ist und in Sportklubs der Armee und des Innenministeriums trainiert, ist kein Alleinstellungsmerkmal. Dergleichen ist auch hierzulande der Fall, man denke nur an die Sportfördergruppen der Bundeswehr.
Mir fällt insofern nur die Kinder- und Jugendarbeit ein. Ihr wird in Rußland viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die Schüler werden bereits in den Schulen an das Schießen mit Druckluftwaffen herangeführt; es finden auch regelmäßig Vergleichswettkämpfe zwischen Schulmannschaften statt. Dies ist jedoch keine russische Besonderheit. In Polen ist es ebenso und m.E. sogar noch stärker durchorganisiert als in der RF (Stichwort: Schulliga). Zudem darf nicht vergessen werden, daß die viele dieser Jugendlichen nicht über das Schießen mit einfachen LG- und LP-Modellen herauskommen. Möglicherweise funktioniert die Suche von Talenten und deren spätere Förderung bis hin zum Spitzenschützen besser als hierzulande. Trainer aus der ehemaligen UdSSR sind zwar weltweit gefragt, aber ich bezweifle, daß diese über eine Art landestypisches Geheimwissen verfügen.
Resümierend muß festgehalten werden, daß die (materiellen) Bedingungen für den Schießsport als Breitensport in Deutschland weitaus besser sind. Nur kann man sich Spitzenleistungen eben nicht mit Geld kaufen. Vielleicht müssen DSB & Co. – wie in Osteuropa üblich – versuchen, Schüler früher für den Sport zu gewinnen. Allerdings setzt das deutsche Waffenrecht hier sehr enge Grenzen. Zudem dürfte es der veröffentlichten Meinung nicht gefallen, wenn die Schützenvereine zwecks Nachwuchsgewinnung in die Schulen gehen würden.
Vielleicht sollten wir Deutschen uns außerdem die Frage vorlegen, ob wir auch eine Schießsportnation und nicht nur eine Schützennation sind. Denn auch bei der Field-Target-WM 2010, die letzte Woche in Ungarn stattfand, lag die russische Mannschaft im Ranking vor dem deutschen Team. Und in dieser Randdisziplin des Schießsports kann man schlechterdings nicht auf große organisatorische Unterschiede abstellen.
Die beiden Einlassungen im DWJ sind um so bedauerlicher, als man sich in Schwäbisch Hall damit rühmt, eng mit der Zeitschrift Kalaschnikow, einem der beiden führenden russischsprachigen Waffenmagazine, zusammenzuarbeiten.
Doch zurück zum eigentlichen Thema: Rußland als Chiffre in deutschen Diskursen, Teil 3. Über die unselige Kooperation der Firmen Anschütz und Armatix hatte ich hier bereits berichtet. Vor wenigen Tagen hat Armatix versucht, zurückzuschlagen, indem Lutz Belger (Armatix’ „Sales Manager“) einen längeren Kommentar im Tetra-Gun-Blog von Michael Kuhn verfaßt hat. Folgende Stelle des Elaborates ist mir besonders aufgefallen:
"[…]Um es kurz zu machen: Ich halte die Behauptung, daß ein staatseigener Waffenhersteller aus Rußland versucht haben soll, sich bei Armatix einzuschmeicheln, für unwahr (kann es aber natürlich nicht beweisen). Warum? Erstens muß man wohl Deutscher sein, um der absonderlichen Sicherheitsphilosophie der Fa. Armatix überhaupt etwas abgewinnen zu können. Zweitens erhebt sich die Frage, wo der angebliche rußländische Waffenhersteller seine derart ausgestatteten Waffen denn absetzen will? Im eigenen Land wohl eher nicht, denn ich bezweifle, daß viele Jäger und Schützen aus der RF ihr sauer verdientes Geld für solch teuren Nonsens wie Smart-guns ausgeben würden.
Gleichzeitig ist ein zweiter Hersteller aus Russland auf uns zugekommen, um uns davon zu überzeugen die Entwicklung mit deren Firma zu realisieren. Da wir als deutsche Firma ausschließlich zu 100 % in Deutschland produzieren, damit Arbeitsplätze entstehen und gesichert werden, ist die Einstellung unserer Firma eindeutig, das wir uns mit der Entwicklung und Produktion zum Standort Deutschland mit den hier ansässigen Unternehmen bekennen. Und Sie können versichert sein, das die russische Firma unterstützt vom russischen Staat ein sehr hohes Kapital mit eingebracht hätte.
[…]"
Gehen wir also davon aus, daß sich Armatix diese Geschichte ausgedacht hat. Dazu würden auch andere Aspekte passen. Zunächst die Angst vor der Bedrohung aus dem finsteren Osten, für die Deutsche schon immer empfänglich waren. Dann die patriotische Firma A., die standhaft einen Ausverkauf deutscher Hochtechnologie an irgendwelche zweifelhaften Russen (die uns vielleicht der pöse Putin persönlich geschickt hat) verhindert und damit deutsche Arbeitsplätze gesichert hat. Und die deutschen Legalwaffenbesitzer sollen – so der Subtext der zitierten Passage – den Firmen A. und A. gefälligst dankbar sein und ihre Produkte kaufen, denn sie haben als wahre Altruisten nicht etwa schnöden Kommerz, sondern nur unser aller Wohlergehen im Sinn.
Abschließend noch eine vierte Story zum Thema. Kürzlich hat der Grünen-Chef Cem Özdemir im Kontext der Proteste gegen das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ sinngemäß geäußert, daß die baden-württembergische Polizei vorgegangen sei, wie in Putins Rußland. Doch auch dieses scheinbar treffende Argument paßt nicht. Erstens habe ich bei der Auflösung unerlaubter Demos in der RF bisher noch keine Wasserwerfer im Einsatz gesehen, dafür waren die Menschenmengen einfach zu klein. Mehr als Wegtragen und in Busse verbringen ist in Moskau nicht üblich. Zweitens ist festzuhalten, daß die Demos, bei denen eingeschritten wurde, eben verboten worden waren (vgl. auch § 15 IV des deutschen Versammlungsgesetzes). Dergleichen war bei der Kundgebung gegen Stuttgart 21 gerade nicht der Fall.
(Zur Komplexität des Themas Demonstrationsrecht in Rußland siehe auch hier und hier.)
Die halbgebildeten Grünen haben dabei freilich einen anderen, viel treffenderen Aspekt übersehen. In einen Wald nahe der Stadt Chimki im Moskauer Umland sollte eine Schneise geschlagen werden, um eine dringend benötigte neue Straße bauen zu können. Dagegen hat sich Protest geregt und dieser war alles andere als friedlich. Es blieb nicht nur bei Blockaden und Hungerstreiks einzelner Ökoaktivisten, nein, es flogen auch Steine, es kam zu Brandstiftungen und Prügeleien. Trotz dieser gewaltsamen und illegalen Formen des Protests haben sich die selbsternannten Waldschützer letzten Endes durchgesetzt: Das Bauprojekt wurde im August vorläufig gestoppt, um es erneut zu diskutieren und zu bewerten.
Wenn man also unbedingt Parallelen zwischen Stuttgart 21 und den Verhältnissen in der RF ziehen will, dann doch wohl die, daß die politischen Entscheidungsträger in Berlin und Stuttgart von ihren Kollegen in Moskau lernen sollten. Sie brauchen Mut, um das extrem unpopuläre Großprojekt vorerst einzufrieren und es ggf. nur in einer weniger einschneidenden Form fortzusetzen.
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Gabriele Krone-Schmalz
Bild: moskau-berlin-express.de.