Akademische Buchvorstellungen und -rezensionen werden typischerweise ebenfalls in schriftlicher Form erstellt. Einen anderen Weg wählt hier das von
Sean Guillory betreute Projekt
New Books in Russian and Eurasian Studies, indem die englischsprachigen Autoren zu ihren neuen, meist historischen Büchern über Rußland und Eurasien interviewt werden. Die Interviews kann man sich sodann auf der Seite anhören oder als MP3 herunterladen. Das ganze ist Teil des
New Books Network.
Ich persönlich empfinde diesen Ansatz als höchst interessant und dem Internetzeitalter angemessen. Der (künftige) Leser kann sich, wenn der Autor sein Konzept erläutert und seine Thesen vorstellt, gut ein erstes Bild machen. Möglicherweise sogar ein besseres als in einer klassischen Rezension. Einen Nachteil haben diese Interviews allerdings: Bisweilen entsteht der Eindruck, als wären sie zu wenig kritisch. Insoweit scheint mir der gängige Rezensent im Vorteil zu sein.
Nichtsdestotrotz sollen jetzt noch zwei Titel erwähnt werden, die mich besonders interessieren und die mittlerweile auf meiner "To-do"-Liste stehen. In
"Ezhov - The Rise of Stalin’s Iron Fist" stellt J. Arch Getty die Biographie des NKWD-Chefs
Nikolaj Jeshow dar. Getty bleibt nicht bei oberflächlicher Empörung angesichts des "Großen Terrors" der Jahre 1937/38 stehen, sondern zeigt die Hintergründe auf. Warum wurde gerade Jeshow, der eigentlich aus dem Parteiapparat kam, mit dieser Funktion beauftragt? Wie liefen die Entscheidungsprozesse ab? Usw. usf.
Bei diesem Thema bleibt auch David Shearer mit
"Policing Stalin’s Socialism - Repression and Social Order in the Soviet Union 1924-1953". Er weitet den Blick auf die Rolle der normalen Polizei während der Stalinzeit aus und zeigt auf, daß ordinäre Kriminelle zunehmend als "Volksfeinde" und damit als politisches Problem für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft angesehen worden sind. Shearers Darstellung der Versuche einer Verwissenschaftlichung der Kriminalitätsbekämpfung über Karteien u.ä. erinnert erstaunlich an ähnliche Ansätze, die zeitgleich in der Weimarer Republik liefen.
Beide Bücher scheinen gute Einblicke in das Innenleben der sowjetischen Sicherheitsbehörden zu geben.
Zum Schluß noch eine Episode, die der kanadische Historiker
David Schimmelpenninck van der Oye erzählt hat. Nach seinem Studium (mit Schwerpunkt russische Geschichte) diente er einige Jahre als Offizier in der kanadischen Armee. Während einer Inspektion seiner Stube griff ein Oberst in Schimmelpennincks Regal und zog eine Biographie über Kaiser
Nikolaus I. heraus. "Warum lesen Sie das? Sind sie etwa ein Kommunist?"
Dies vermittelt einen guten Eindruck vom geistigen Klima des Kalten Krieges. Nicht nur in der BRD, sondern auch im fernen Kanada wurde jedes nicht gänzlich negative Interesse an Osteuropa, und sei es auch rein wissenschaftlich, mit dem Verdacht der "kommunistischen Wühltätigkeit" belegt. Alle "Russen" - auch die Zaren - waren eben "Kommunisten" und damit zum Abschuß freigegeben.
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