Seit Jahren muß ich feststellen, daß es in Deutschland zwei verschiedene Debatten über historische Themen gibt, die zum Teil nur wenig miteinander verknüpft sind. Da ist einerseits die fachwissenschaftliche Diskussion im akademischen Raum, mit Aufsätzen, Quelleneditionen und umfangreichen Monographien und Sammelbänden. Auf der anderen Seite dann die „populärwissenschaftliche Diskussion“, die von preiswerten Taschenbüchern (z.T. ohne Fußnoten) und Fernsehsendungen geprägt wird, wobei Guido Knopp noch als vergleichsweise hochwertig gelten darf. Die Qualität letzterer variiert, zumal es offenbar mehr auf die möglichst „spannende“ Vermittlung als auf die inhaltliche Richtigkeit ankommt. (Wie könnte man sonst z.B. erklären, daß in schöner Regelmäßigkeit suggeriert wird, in der DDR wären Anfang der 1980er Jahre Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 stationiert gewesen?)
Ein besonderes Kennzeichen dieser zweiten Diskussion ist ihre inhaltliche Einschränkung. Man hat den Eindruck, als ginge es eher um Volkspädagogik oder Propaganda. Namentlich die wechselvolle Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen nach 1939 wird in diesem Sinne beackert. Vor allem im westlichen Teil Deutschlands hatte man sich nach 1945 ein paar nette Legenden und Selbstrechtfertigungen aufgebaut (z.T. in direkter Anknüpfung an die NS-Propaganda), von denen manche unserer Mitbürger bis heute nicht recht lassen können. Zu tief scheint noch der Ost-West-Gegensatz in den Knochen zu stecken. Es gibt zahlreiche dieser Einzelfragen, zu denen Guido Knopp & Konsorten regelmäßig eine quasi amtliche Einheitsmeinung präsentieren, während die Forschung schon erheblich weiter ist. Doch könnten deren Ergebnisse wohl manche selbstgerechte Position („wir waren die Guten“) ins Wanken bringen.
Eines jener Bücher, die geeignet sind, bisherige Gewißheiten zu erschüttern, ist „Pax Sovietica – Stalin, die Westmächte und die deutsche Frage 1941-1945“ von Jochen Laufer. Sein Untersuchungsgegenstand ist die unter sowjetischer Vorherrschaft nach 1945 durchgesetzte Friedensordnung im Osten Europas, die er als pax sovietica versteht. Laufer kann die Grundlinien der sowjetischen Außenpolitik bezüglich Deutschlands darstellen, die vom Streben nach Sicherheits- und Einflußzonen im Vorfeld des Territoriums der UdSSR geprägt war. Eine nach 1945 in Westdeutschland wichtige Behauptung kann er jedoch widerlegen: Es gab in der sowjetischen Führung kein Streben nach einer „Bolschewisierung Europas“ und mithin auch keinen „Griff nach der Weltmacht“. Der Sieg über das Deutsche Reich und dessen Besetzung gemeinsam mit den anderen Alliierten waren die Kriegsziele im Zweiten Weltkrieg.
Das Lesen von Laufers Buch, das in ein größeres Forschungsprojekt eingebunden ist, ist ein Genuß, der uns heute – vor allem, wenn es um die sowjetische Geschichte geht – nur selten zuteil wird. Kenntnisreich stellt er nicht nur die sowjetischen Quellen dar, sondern stellt sie auch in den jeweiligen internationalen Zusammenhang. D.h. es werden auch die maßgeblichen britischen und amerikanischen Quellen hinzugezogen, um einen Vorgang darzustellen. Kurzum: Diplomatiegeschichte, wie sie eigentlich betrieben werden sollte. Dabei gelingt es dem Autor, viele relevanten Vorgänge im Detail nachzuvollziehen.
Die behandelten Themen sind so vielfältig, wie es auch die Beziehungen zwischen der UdSSR, den USA und Großbritannien während der Kriegszeit waren. Der Leser erfährt z.B., daß man in London und Washington bis Ende 1942 ständig mit dem Zusammenbruch der SU und demzufolge mit ihrem Ausscheiden aus dem Krieg gerechnet hat. Oder daß es in den westlichen Hauptstädten durchaus die Meinung gab, Deutschland und die Sowjetunion sollten sich gegenseitig schwächen, was für die Westmächte letztendlich nur gut sein könne. Oder wie mühselig es war, substantielle völkerrechtliche Vereinbarungen über das Kriegsbündnis der drei Staaten herbeizuführen – ein Bündnis, das mehrfach von ernsten Spannungen fast gesprengt worden wäre. Die sowjetische Position wurde schließlich durch ein Wechselspiel zwischen eigener militärischer Machtentfaltung, dem Gestaltungswillen Stalins und der militärischen Schwäche der Westmächte geprägt. Stalin war klar, daß er auf warme Worte allein nicht bauen konnte, weshalb es militärischer Siege bedurfte, um auch auf dem diplomatischen Feld erfolgreich zu sein.
Darüber hinaus werden auch interessante Details gestreift, z.B. wie es zur Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen kam, wie deren Grenzen festgelegt wurden, wie man sich die Zeit nach dem Sieg vorstellte u.v.a.m. Mir war bisher nicht bekannt, daß der Verlauf der Westgrenze der SBZ bzw. DDR auf einen Entwurf britischer Planer zurückgeht, der weitgehend „durchgewinkt“ wurde. Die wechselvollen Beziehungen zwischen den drei späteren Siegermächten sind auch hinsichtlich ihrer „atmosphärischen“ Details spannend nachzuvollziehen.
Fazit: „Pax sovietica“ ist mit über 600 Seiten nicht nur gewichtig, sondern auch inhaltlich eine überaus wichtige Abhandlung zu vielen Fragen der sowjetischen Außenpolitik sowie der alliierten Deutschlandpolitik in der Zeit des 2. WK. Gestützt ist sie auf eine exzellente Quellenbasis, denn viele der Dokumente aus rußländischen Archiven wurden hierfür erstmals ausgewertet und werden mit Quellen aus anderen Staaten konfrontiert.
Bei Gelegenheit werde ich hier noch einige Aspekte vertiefen, ebenso bezüglich der sowjetischen Deutschlandpolitik nach dem 8. Mai 1945.
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