Der November 2010 war auf den Kulturkanälen Arte und 3sat angefüllt mit Beiträgen über den russischen Schriftsteller Lew Tolstoj. Anlaß war dessen Todestag, der sich in diesem Jahr zum einhundertsten Mal jährt. Manche dieser Filme waren gut und durchaus geeignet, dem deutschen Publikum die Geschichte Rußlands und seiner Literatur näherzubringen. Andere hingegen waren von zweifelhafter Qualität. Eine oft gestellte Frage war die nach der Aktualität Tolstojs. Manche Autoren waren offenkundig herb enttäuscht, als sie während ihrer Dreharbeiten keine Russen trafen, die mit Tolstojs Büchern unter dem Arm spazierengingen.
Natürlich gilt Lew Nikolajewitsch auch heute noch als verehrungswürdiger Klassiker, aber seine während der Sowjetzeit herausragende Rolle hat er eingebüßt. Die Gründe dafür sind – natürlich – vielfältig. Zum einen stand Tolstoj den Bolschewiki geistig nahe, auch wenn seine Verehrer diese Nähe hartnäckig leugnen. Er wollte eine diesseitige Menschheitbeglückungsreligion gründen und hat deshalb das Christentum verworfen. Er wollte zwar das Gute für die Menschheit, aber für konkrete Menschen in einer Notlage hatte er kaum etwas übrig. Mit dem Ruhm des Schriftstellers konnte er sich nicht begnügen, nein, er wollte auch als großer Philosoph gelten. Seine konkreten Vorschläge zur Verbesserung des Menschengeschlechts waren ziemlich radikal: Zwang zum einfachen, geradezu ärmlichen Leben; Verzicht auf Transzendenz; vegetarische, fast schon veganische Ernährung u.a.m.
Die bolschewistische Herrschaft trug ebenfalls stark religiöse Züge: Der Personenkult, insbesondere um den toten Lenin; der Erlösungscharakter der im Diesseits aufzubauenden kommunistischen Zukunft; die harte Bekämpfung anderer, konkurrierender Religionsgemeinschaften (Orthodoxie, Islam, Judentum); der Glaube an die autoritativen, fast schon heiligen Schriften der „Klassiker“ Marx, Engels, Lenin und zeitweise Stalin usw.
Nichts gegen jemanden, der freiwillig so leben möchte wie Tolstoj! Doch in seinem Umkreis regierte – wie wenige Jahre später unter Lenin – Zwang. Selbiger ging zu einem nicht geringen Teil von seinen Jüngern aus und sogar der Meister selbst mußte sich ihm hin und wieder beugen. Die Ähnlichkeiten zwischen Tolstoj und den späteren Kommunisten sind frappierend. Trotzdem wäre es überzogen, Tolstoj als Marxisten zu bezeichnen. Dennoch wird man den Schriftsteller wohl als ihren geistigen Wegbereiter diverser linksradikaler Gruppen bezeichnen dürfen. Deshalb überrascht es nicht, daß die Menschen im heutigen Rußland nicht übermäßig viel von ihm halten. Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft und dem Bekanntwerden der Opfer, die sie gefordert hat, sind ihnen abstrakte Beglückungsideologien suspekt.
Um so größerer Beliebtheit erfreut sich heute Fjodor Dostojewskij. Anders als Tolstoj hat er Armut und Unterdrückung am eigenen Leib erfahren. Doch wandte er sich der Religion zu und interessierte sich in seinen Werken vor allem für den einzelnen Menschen, nicht für die Menschheit. Somit überrascht es nicht, daß sich Dostojewskijs (offizielle) Popularität während der siebzig „roten Jahre“ in Grenzen gehalten hat. Auch deshalb erhoffen sich heute nicht wenige, durch die Lektüre seiner Werke Auskunft über wichtige Fragen des Lebens zu erhalten.
Mit anderen Worten: Tolstoj befindet sich derzeit in einem Konjunkturtief, sein alter Antipode Dostojewskij ist hingegen in Mode. Ein Grund dafür dürfte auch die Authentizität der beiden Autoren sein. Während der eine vom Ideal der Güterlosigkeit schwärmte, in Wohlstand lebte (also links redete, aber rechts lebte ;-)), zählte der zweite auch in seinem persönlichen Leben zu den „Erniedrigten und Beleidigten“, wurde aber darüber nicht zum Revolutionär, sondern zum konservativen Gottsucher, in dessen Arbeitszimmer eine Ikone samt Ewigem Licht hing.
Ein weiterer Grund für Tolstojs Niedergang dürfte die Weltfremdheit seiner Ideen sein. Obwohl er selbst als junger Mann Offizier gewesen war, propagierte er später die totale Gewaltlosigkeit. Als hehres Ideal mag letztere ja interessant sein, doch wird kein Staat und keine andere Form der irdischen Machtausübung je ohne die Anwendung eines Minimums an Zwangsmitteln auskommen. Jede Erwartung des Gegenteils wäre unrealistisch. Deshalb ist es absurd, wenn Tolstojs Ururenkel Wladimir Iljitsch im Fernsehen räsoniert, daß die rußländische Regierung seinen großen Vorfahren ins Abseits schiebe, um ungestört ihrer Gewaltlust frönen zu können.
Dies ist einer der großen Unterschiede zwischen den Bolschewiki und Tolstoj. Während erstere noch soweit geerdet waren, um anzuerkennen, daß es ohne Gewalt nicht gehen kann und wird, waren der Dichter und seine Jünger für diese Erkenntnis schon zu weit abgehoben. Ihr Reich war nicht von dieser Welt.
Tolstojs Leben war voller Zwiespältigkeiten (siehe dazu auch „Lev Nikolaevič Tolstoj, ein ‚menschheitlicher Mensch’“). Man kann diese aus der Perspektive des außenstehenden Beobachters interessant und spannend finden, doch zum Volkshelden taugt so jemand nicht, zumal die von ihm verkündeten Ideale seit dem 1917 gestarteten Versuch ihrer (allerdings gewaltsamen) Umsetzung mit viel Mißtrauen aufgenommen werden. So plädierte Tolstoj z.B. für eine möglichst kostenlose Schulbildung. Im heutigen Rußland sind Gebühren für höhere Schulen und Universitäten jedoch ganz üblich, ohne daß es deshalb zu Protestkundgebungen käme. Die Russen sehen ein: Wissen und Bildung – und damit implizit auch bessere Karriereaussichten – können nicht zum Nulltarif zu haben sein.
Ähnlich verhält es sich mit Tolstojs Ideal der Armut und Güterlosigkeit. Für einen reichen Großgrundbesitzer wie ihn mag das eine nette Vorstellung gewesen sein. Für viele Millionen Russen war die Zeit zwischen dem Ende der 1980er Jahre und dem Beginn der 2000er hingegen eine existentielle Erfahrung. Für sie war bittere Armut eine Realität und die Versorgungslage z.T. ausgesprochen schlecht – schlechter noch als unter Breshnjew. (Obwohl die gesamte Sowjetzeit kaum Gelegenheit für das Anhäufen von Reichtümern bot. Oder besser gesagt: auch wer überdurchschnittlich viel Geld verdiente, konnte sich dafür nur wenig kaufen.)
Angesichts dessen ist der bescheidene Wohlstand, den sich die meisten Menschen seit einigen Jahren schaffen konnten, erfreulich, auch wenn rigorose Tolstojaner dies als Ausdruck moralischer Verderbtheit empfinden mögen. Letztere sollten sich vielmehr nicht darüber wundern, daß ihre Ideologie heute nur noch wenige anspricht. Schließlich hat die sowjetische Epoche empirisch bewiesen, daß Massenarmut nicht zu einer Veredelung der Menschheit führt.
Diese wenigen Gedanken sollten zeigen, daß sich die Frage nach der Aktualität Tolstojs – und damit vor allem der Aktualität seiner philosophischen Entwürfe – im heutigen Rußland nur bedingt stellt. Zwischen 1917 und 1987 ist manches versucht worden, um seine Ideen ins Werk zu setzen, doch die Resultate waren bescheiden. Das sollte man nicht nur, wie oft üblich, den inkompetenten und gewalttätigen Bolschewiki anlasten, sondern auch Tolstoj, einem ihrer Ideengeber. Was von ihm bleiben wird, sind seine belletristischen Werke, nicht seine Weltentwürfe und -beglückungsphantasien.
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