Donnerstag, 27. Oktober 2011

Schützenvereine im Dritten Reich

Der Bochumer Historiker Henning Borggräfe hat im Jahr 2010 seine Masterarbeit mit dem Titel „Schützenvereine im Nationalsozialismus – Pflege der ‚Volksgemeinschaft’ und Vorbereitung auf den Krieg (1933-1945)“ im Ardey-Verlag vorgelegt. Der Autor beklagt zu Recht, daß die Zeit des „Dritten Reiches“ in den bisherigen Darstellungen der Schützengeschichte unterbelichtet ist. Diesem Desiderat will er abhelfen, wobei er sich regional auf Westfalen konzentriert. Borggräfe hat sich quellenmäßig primär auf Zeitungen und Zeitschriften des Untersuchungszeitraumes gestützt. Seine Forschungen haben manch interessante Details ans Licht gebracht, doch sind sie an anderen Stellen hochproblematisch.

Organisationsentwicklung

Ein großes Plus des zu besprechenden Buches ist die komprimierte Darstellung der Organisationsgeschichte im Schützenwesen. Welche Verbände gab es, in welcher Beziehung standen sie zu den Vereinen usw. Besonderes Augenmerk verdient die Entwicklung nach 1933, als mit dem „Deutschen Schützenverband“ ein quasi staatlicher Einheitsverband gegründet wurde, in dem die bisherigen Verbände aufgingen. Auf verbandslose Vereine wurde zudem erheblicher Druck, der bis zu Vereinsverboten durch die Polizei reichte, ausgeübt, um sie zum Anschluß an den DSchV zu bewegen.

In engem Zusammenhang damit stehen die anscheinend schon uralten Konflikte innerhalb der Vereine und Verbände: Sieht man sich selbst eher als „Traditionsschütze“, dem Fahnen, Uniformen und Orden über alles gehen oder als „Schießsportler“, dem es vor allem auf das praktische Schießen und den Wettkampf ankommt? Dieser Konflikt durchzieht die Jahre 1933-1945 und ist auch heute noch virulent.

These

Der Autor vertritt die These, daß die Schützenvereine im Dritten Reich willige Stützen des NS-Regimes waren. Dies habe nicht nur an dem traditionellen Patriotismus vieler Schützen (den Borggräfe „Nationalismus“ nennt) gelegen, sondern teilweise auch an inhaltlichen Kongruenzen der bürgerlichen Vereine mit der NS-Ideologie. Dabei sei es gleichgültig, ob man sich eher als Traditionsschütze oder als Schießsportler gesehen habe. Beide hätten, ungeachtet aller internen Konflikte, entweder durch „Gemeinschaftspflege“ oder durch „Wehrhaftmachung“ zur Stabilisierung des Regimes beigetragen.

Ungenügende Informationen

Der Beleg dieser These gelingt dem Autor nur bedingt. Dies hat auch mit seiner ungenügenden Informationsbasis zu tun. Denn er kann auch für sein Untersuchungsgebiet Westfalen nicht angeben, wie viele Schützenvereine es überhaupt gegeben hat. Selbst während der späten 30er Jahre, als der Vereinheitlichungsdruck im DSchV schon sehr groß war, gab es immer noch verbandslose Vereine. Und die internen Statistiken des DSchV waren alles andere als stimmig. M.a.W.: Die DSchV-Führer wußten selbst nicht, wie viele Mitglieder ihr Verband hatte (vgl. S. 46).

Unzulässige Generalisierungen

Angesichts dessen erscheinen die stark verallgemeinernden Aussagen Borggräfes mehr als gewagt. Wen meint er, wenn er kontinuierlich und diffus von „den Schützen“ spricht? Die Schützenvereins- und -verbandslandschaft war damals äußerst heterogen, weshalb sich Generalisierungen verbieten. Wenn ein DSchV-Funktionär unter eigenem Namen einen Zeitschriftenartikel publiziert hat, dann sind diese Einlassungen immer noch seine persönliche Meinung und zeigen nicht das „einhellige“ (S. 83) Meinungsbild „der Schützen“.

Ebenso ist es unzulässig, aus den drei Vereinen, deren Historie Borggräfe näher untersucht hat, zu extrapolieren und Schlußfolgerungen für alle deutschen Schützen abzuleiten. Dazu ist die Untersuchungsbasis viel zu dünn. Woher will der Autor ferner wissen, daß „die Schützen“ nach 1918 dem neuen politischen System von Anfang an feindselig gegenübergestanden hätten (S. 18)?

Borggräfes Tendenz zur „Geschichtsschreibung mit dem Bügeleisen“ (Kurt Pätzold) zeigt sich auch an seinen Aussagen zu den heutigen Schützenverbänden. Es existiert mitnichten nur der Deutsche Schützenbund, sondern das Bundesverwaltungsamt hat neun Schießsportverbände anerkannt. Schon deshalb ist es inakzeptabel, wenn - tatsächlich z.T. problematische - Aussagen einzelner DSB-Funktionäre „den Schützen“ in ihrer Gesamtheit vorgeworfen werden.
Der Autor täte besser daran, Roß und Reiter konkret zu benennen, anstatt mit Schmutz auf alle zu werfen, die sich irgendwie Schützen nennen. (Aber vielleicht ist das auch der Sinn seines Buches, denn so kann der Agitation der Waffengegner leicht ein neues „Argument“ hinzugefügt werden.)

Es sind zahlreiche dieser Generalisierungen, die die Argumentation des Buches tragen. Verzichtet man auf selbige, dann sind Borggräfes Thesen z.T. unhaltbar, z.T. gewinnt die Darstellung jedoch deutlich an Tiefenschärfe.


Hitlerjungen beim Schießtraining.


Nähe zum Nationalsozialismus?

Die von Borggräfe konstatierte ideologische Nähe „der Schützen“ zum Nationalsozialismus ist äußerst kritisch zu sehen. Zum einen kann er diese Auffassung nur vertreten, weil die der SPD und KPD nahestehende, aber in sich gespaltene Arbeiterschützenbewegung in seiner Abhandlung lediglich in einer Fußnote präsent ist. Aber auch die bürgerlichen Schützenvereine waren alles andere als homogen (Stichwort: Katholizismus). Bei näherer Betrachtung schrumpft die „Nähe“ dann noch auf ein paar bürgerliche Allgemeinplätze wie z.B. die Ordnungsliebe, was man wohl kaum als explizite Zustimmung zu allen ideologischen Verästelungen des NS deuten kann.

Beispielhaft soll hierfür das Thema Antisemitismus stehen. Der Autor weist zutreffend darauf hin, daß während der Weimarer Republik Juden selbstverständlich Mitglied in einem Schützenverein werden konnten. Damit heben sich diese Vereine deutlich von anderen deutschen Vereinen ab, in deren es bereits vor 1933 einen „Arierparagraphen“ gab. Nach der Machtergreifung der Nazis setzte dann ein Herausdrängen der jüdischen Mitglieder ein. Aufgrund der oben schon genannten Unklarheiten kann Borggräfe jedoch keine gesicherten Angaben darüber machen, in wie vielen Schützenvereinen nun tatsächlich – wie von den Nazis gewünscht – jüdische Mitglieder ausgeschlossen worden sind. Deshalb erscheint seine Behauptung, die Schützen hätten aus eigenem Antrieb antisemitische Ziele verfolgt (S. 30), als tollkühn.

Das trifft auch auf außenpolitische Fragen zu. Der Kampf gegen den Vertrag von Versailles und seine Folgen war ein weitgehender Konsens in der Weimarer Republik, dem sich nur Teile der Linken entzogen. Deshalb sollte man insoweit mit dem Adjektiv „nationalistisch“ vorsichtig sein.

Desgleichen ist es verfehlt – und kann durch die ausgebreiteten Quellen nicht gestützt werden –, von einer bereitwilligen Anpassung „der Schützen“ an die NS-Rassenideologie zu sprechen (S. 52). Der ebd. zitierte Artikel aus der Zeitschrift „Der Deutsche Schütze“ anläßlich des 22. Juni 1941 ist von Textbausteinen des Reichspropagandaministeriums geprägt, wie sie damals in praktisch allen Periodika verwendet wurden. Der Rückschluß von einem solchen Pamphlet auf die Meinungen „der Schützen“ ist absurd.
Damit soll nicht gesagt werden, daß nicht ein Teil der Schützen diesen Auffassungen zugestimmt hätte. Sie hatten in Deutschland allerdings eine Tradition, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreichte und sogar die Sozialdemokratie erfaßte. Auch deshalb konnte später von den Propagandaeinrichtungen der Adenauer-Ära ohne weiteres auf diese Topoi zurückgegriffen werden, ohne daß ein expliziter Rekurs auf den NS erforderlich gewesen wäre.

Wehrsport

Der Hauptpunkt, an dem Borggräfe die von ihm behauptete durchgängige Unterstützung des NS durch „die Schützen“ festmacht, ist das Konzept des Wehrsportes. Seines Erachtens war diese Erweiterung des Schießsportes nichts anderes als eine unmittelbare Vorbereitung des späteren Eroberungskrieges. Wehrsport sei fast ausschließlich von rechtsextremen Gruppen betrieben worden. Doch auch insoweit war die Realität komplexer als Borggräfe wahrhaben will. „Wehrverbände“ gab es zu Zeiten der Weimarer Republik zahlreiche; sie fanden sich in allen politischen Lagern. Einer der größten (den der Autor verschweigt), das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, stand der SPD nahe. Ferner herrschte ein Konsens, daß nun, nach dem abrupten Ende der Wehrpflichtarmee, die Jugend anderweitig auf die Landesverteidigung vorbereitet werden müsse. Die außenpolitische Lage des Deutschen Reiches war ja alles andere als rosig.

Zudem darf nicht verkannt werden, daß Wehrsport wohl für die meisten Mitglieder der Wehrverbände ein weitgehend zweckfreies Spiel war. Es kam ihnen primär auf die paramilitärischen Rituale, die Männlichkeit signalisieren sollten, an, weniger auf den Inhalt irgendeiner politischen Botschaft (vgl. Ute Frevert: Die kasernierte Nation, München 2001, S. 309 ff.).
Dieser Trend betraf keineswegs nur die „militaristischen“ Deutschen, sondern fast ganz Europa. In vielen Staaten war eine vormilitärische Jugendertüchtigung gang und gäbe. Zu denken ist hier zunächst an die von England ausgehende Pfadfinderbewegung, weiters an paramilitärische Organisationen in Polen, der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, Frankreich usw. Und überall dort wurde natürlich auch Schießausbildung betrieben.
(Eine zeitgenössische Übersicht findet sich in: Militärische Schulung der Jugend im Ausland, Süddeutsche Monatshefte, Heft 7 [April 1926]; speziell zu Polen: Tadeusz Böhm: Od skautingu do Harcerskiego Pogotowia Wojennogo w Wielkopolsce [1912-1945], Poznan 2009; zur UdSSR: H. Radke: Die Besten wurden Woroschilow-Schützen, in: Visier 1/1977, S. 20 f.)

Die „angestrebte Symbiose aus Sport und Kriegsvorbereitung“ (S. 85) war folglich weder spezifisch deutsch noch gar nationalsozialistisch. Sie lag vielmehr im Zeitgeist. Mithin ist es ein unzulässiger Kurzschluß Borggräfes, wenn er meint, dadurch, daß seit Mitte der 20er Jahre in manchen deutschen Schützenvereinen Wehrsport betrieben wurde, hätten „die Schützen“ die deutsche Außenpolitik der Jahre 1938 ff. willentlich vorbereitet und fast schon herbeigesehnt. Wäre dem so, dann müßte man den meisten anderen europäischen Staaten ebenfalls aggressive Absichten unterstellen.

Auf starke Bedenken stößt auch seine pazifistisch gefärbte These von der „gesellschaftlichen Kriegsvorbereitung als Volkssport“ (S. 81). Dadurch wird jedem Bürger, der Schießsport betrieb, unterstellt, er habe den 2. WK – und zwar so, wie er dann geschehen ist – vorbereiten und herbeiführen wollen. In diesem Weltbild bleiben allerdings der begrenzte individuelle Erwartungs- und Entscheidungshorizont ebenso wie politisch-diplomatische Zufälligkeiten auf der „großen Bühne“ unberücksichtigt (vgl. dazu auch die obige Kritik von Frevert). Auch diese These kann der Autor quellenmäßig nicht belegen.

Die mangelnde Solidität von Borggräfes Argumentation sei an einem Beispiel verdeutlicht. Auf S. 78 schreibt er: „Als HJ-Schießordnung galt [ab 1934] das Sportbuch des Reichsverbands [deutscher Kleinkaliber-Schützenverbände] – auch dies verdeutlicht dessen militärische Intention.“ Wohlgemerkt: Das in Rede stehende Sportbuch ist erstmals in den 1920er Jahren erschienen. Die Gründe für die Auswahl gerade dieses Werkes anno 1934 können vielfältig sein. Angefangen von der guten Vernetzung der Autoren bis hin zum Mangel an anderer geeigneter Literatur. Deshalb ist Borggräfes Schluß, der – ohne weitere Recherchen – einfach eine kontinuierliche Linie von einem Schießsportverband der 20er Jahre zur Hitlerjugend der 30er zieht, absurd.

Wehrhaftmachung

Übergeordnetes Thema des Wehrsports ist die Frage, ob das sportliche Schießen nur Selbstzweck ist, oder ob es auch einem übergeordneten gesamtstaatlichen Zweck dienen soll, nämlich der „Wehrhaftmachung“ der Bevölkerung. Im Ausland ist diese Auffassung seit Mitte des 19. Jahrhunderts oft bejaht worden (vgl. hier). Auch in Deutschland fand sich z.B. in der Satzung des Deutschen Schützenbundes von 1861 das Ziel der „Hebung der Wehrfähigkeit des Volkes“.

Dieser fromme Wunsch darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Idee eines bürgerfreundlichen Milizmilitärs in Deutschland nie wirkungsmächtig werden konnte. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jh. sind alle diesbezüglichen Versuche gescheitert. Dies lag allerdings weniger an der Obrigkeit, als an den Bürgern selbst. Von kurzen Hochphasen wie 1848 abgesehen, war ihnen der Militärdienst nur eine lästige Pflicht, vor der man sich gern drückte (vgl. Frevert, a.a.O., S. 152-192). Daher darf man alle Aufrufe zur Bildung einer Miliz nicht allzu ernst nehmen, auch wenn sie mit viel Verve vorgetragen worden sind. Hinzu kamen schon 1866 ernste Zweifel, ob die Schützenvereine als Teil der Landesverteidigung taugen:
„[...]

Wer die Elemente dieses Schützenbundes ansieht, lauter angesessene, wohlhabende Leute, Familienväter, die gar keine große Lust haben, in’s freie Feld zu ziehen, zum nicht kleinen Theil mit wohlgenährten Bäuchen, wer die Einseitigkeit der Uebung – im bloßen Schießen – berücksichtigt, wer die Masse kleiner Eitelkeiten, zu deren Befriedigung die alten Schützengilden dienen, auf deren Boden doch wieder vorzugsweise der Schützenbund aufgerichtet wird, wer endlich eine Zählung anstellt, und die geringe Zahl der Mitglieder des Deutschen Schützenbundes erwägt, der wird wohl auch nicht von ferne daran denken, in demselben den Kern einer militärischen Organisation erblicken zu wollen, wie sie Deutschland anpassend sein würde.

[...]“ (Wilhelm Rüstow: Von der zweckmäßigen Heeresbildung und erfolgreichen Kriegsführung und ihren Hindernissen, Coburg 1866)
Mithin wird man im Gerede von der „Wehrhaftigkeit“, wie es sich seit den 1860er Jahren in vielen Schützenpublikationen findet, vor allem eine Deklaration sehen müssen, womit in der Öffentlichkeit die eigene patriotische Gesinnung zur Schau gestellt werden sollte.


Schießausbildung von HJ-Angehörigen, aber nicht in einem Schützenverein, sondern in der Wehrmacht.


Unter der Führung der SA

Borggräfe scheint derartige rhetorische Übungen allzu ernst zu nehmen. Denn er unterstellt der ab 1939 von der SA betriebenen vormilitärischen Ausbildung ungedienter Männer, an der sich auch die Schützenvereine beteiligen mußten, daß sie „überaus erfolgreich“ verlaufen sei. Doch woran soll dieser Erfolg festgemacht werden? An den Selbstzuschreibungen einzelner DSchV-Funktionäre, die ihre eigene Schießausbildung als kriegsentscheidend rühmten? Die Anzahl der durch irgendwelche Kurse geschleusten Männer kann es wohl kaum gewesen sein.

An diese Stelle hätte ein kritischer Historiker, für den sich Borggräfe ja hält, einhaken und nachfragen müssen: Wie haben die zuständigen Dienststellen der Wehrmacht diese Ausbildung bewertet? Davon findet sich im Buch leider nichts. Der Rezensent ist jedoch in der Lage, einen Vergleich mit der DDR anzustellen. Die dort namentlich von der GST betriebene vormilitärische Ausbildung hat die Erwartungen der Armeeführung bis weit in die 70er Jahre hinein nie befriedigt. Das lag allein schon daran, daß es zu keinem Zeitpunkt gelungen ist, eine Vorbreitungsquote von 100 % zu erreichen, d.h. es mußten immer auch Rekruten ausgebildet werden, die über keinerlei Vorkenntnisse verfügte (vgl. Paul Heider: Die Gesellschaft für Sport und technik [1952-1990], in: T. Diedrich et.al. [Hrsg.]: Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Augsburg 2004, S. 169 ff. [187]). Das schwächt natürlich den Wert solcher staatlich verordneten Vorkurse ganz enorm, gerade in einem Millionenheer.

Des weiteren muß man sich die Frage vorlegen, welche Bedeutung das Infanteriefeuer – und damit die Schießausbildung – im Zweiten Weltkrieg hatte. Bereits der 1. WK war maßgeblich von Artillerie- und Maschinenwaffen geprägt gewesen, was einem einzelnen Schützen, selbst wenn er gut ausgebildet war, nur wenig Raum ließ. Im 2. WK kamen noch Waffensysteme wie Panzer und Flugzeuge hinzu; erstmals waren schnelle und tiefe Operationen möglich. Hinzu trat die gestiegene Bedeutung der militärischen Logistik, welche die z.T. ungeheuren Verluste ausgleichen mußte. Angesichts dessen drängt sich der Schluß auf, daß der gezielte Einzelschuß, den man im Schützenverein lernen konnte, nicht operations- und schon gar nicht kriegsentscheidend war. In den meisten Fällen wird er nicht einmal gefechtsentscheidend gewesen sein.

Somit erscheint Borggräfes Resümee, die Schützenvereine hätten dazu geführt, daß die deutsche Gesellschaft bis zum Ende kriegsbereit war (S. 93), abenteuerlich, denn er verwechselt Soldaten- und Schützenromantik mit dem wirklichen Krieg. Vor diesem Verdikt kann ihn auch die Klammerbemerkung, daß es auf den militärischen Wert nicht ankomme, nicht retten. Doch, genau darauf kommt es an.

Aufarbeitung des Dritten Reiches

Borggräfe hat nicht ganz unrecht, wenn er meint, in der deutschen Schützengeschichtsschreibung kämen die Jahre 1933 bis 1945 kaum vor. Gleichwohl hat es schon in den 50er Jahren fundierte Kritik an der Wiederverwendung von NS-belasteten Schützenfunktionären im DSB der BRD gegeben. Vorgetragen wurde sie allerdings in Schießsportzeitschriften der DDR (die Borggräfe augenscheinlich nicht ausgewertet hat). Man darf dies nicht leichtfertig als „Propaganda des Kalten Krieges“ abtun. Es wird schon gute Gründe dafür gegeben haben, daß deutsche Olympiaschützen des Jahres 1936 wie Erich Krempel und Cornelius van Oyen es nach 1945 vorzogen, in Ostdeutschland zu leben, zu arbeiten und zu schießen.

Frauen und Schießen

Noch 1930 hatte der DSB öffentlich verkündet, daß Frauen weder Mitglied des Schützenbundes werden, noch an den Schießwettkämpfen desselben teilnehmen dürfen. Insoweit lag der DSB tatsächlich auf einer Linie mit der NSDAP, die bis 1945 die „Militarisierung“ von Frauen auf wenige Hilfstätigkeiten beschränkte. Nun hat Borggräfe jedoch einen Artikel des DSchV-Funktionärs von Cleve aus dem Jahr 1938 aufgetan, in dem eine Schießausbildung von Frauen sowie deren militärische Verwendung im rückwärtigen Raum propagiert wird. Dieser Befund ist erklärungsbedürftig! Wieso hat der DSchV hier die vom DSB acht Jahre zuvor vorgegebene Linie verlassen und sich damit auch noch in Opposition zur offiziellen Frauenpolitik des Dritten Reiches begeben?

Fazit

Die Antwort auf diese letzte Frage interessiert den Rezensenten brennend – leider kann oder will Borggräfe sie nicht liefern. Alles, was nicht in sein Interpretationsschema paßt, wird einfach ausgeblendet. Er zieht es vor, eine gerade Linie von den Gründern des DSB anno 1861 hin zu Hitler zu ziehen und das Dritte Reich als Erfüllung der alten Schützenträume zu sehen (S. 92). Bei einer derart groben Sicht auf eine komplexe, von vielen unterschiedlichen Akteuren gestaltete Geschichte muß zwangsläufig viel auf der Strecke bleiben.

Ohnehin hat sich bei der Lektüre der Eindruck verfestigt, daß es dem Autor lediglich darum zu tun war, Beiträge zu geschichtstheoretischen Debatten zu formulieren. Sein konkreter Forschungsgegenstand hatte dafür nur das Rohmaterial zu liefern. Inwieweit ihm das gelungen ist, mögen Wissenschaftler beurteilen, die besser mit den Details der Sozialgeschichte vertraut sind als der Rezensent. Hier sollen nur zwei Aspekte herausgestellt werden.

Der mehrfache Rekurs Borggräfes auf den Geschichtsanthropologen Alf Lüdtke bestärkt den Rezensenten in seiner Skepsis. Denn er war einmal während eines Vortrags von Lüdtke anwesend, indem dieser historische Fakten aus der Geschichte Ruandas verwirrte. Als ihn ein Student korrigierte antwortete Prof. Lüdtke, es sei egal, wer dort wen umgebracht habe, Hauptsache, die von ihm ausgebreitete Geschichtstheorie sei stimmig.

Ferner glänzt Borggräfe durch die mehrfache Präsentation von Binsenweisheiten, die z.T. schon peinlich anmutet. Natürlich ist Inklusion nur durch Exklusion möglich (und vice versa). Und natürlich ist in einem technischen Zeitalter wie dem 20. Jahrhundert jede Form der Herrschaftsausübung auf ein großes Maß an Zustimmung durch die Herrschaftsunterworfenen angewiesen, um die komplexe Staatsmaschine am Laufen zu halten. Die manchmal zu findende Vorstellung, daß ein paar Zehntausend Parteigenossen und SS-Leute nur mit Terror und Gewalt über 80 Millionen Deutsche geherrscht hätten, ist doch absurd. Ob man aus dieser mehr oder minder aktiven Unterstützung ableiten kann, die meisten Deutschen seien Überzeugungstäter im Sinne des NS gewesen, muß doch bezweifelt werden. Dies würde den Begriff des Täters uferlos ausweiten.

Kurzum: Wenn man sich der Mängel von Borggräfes Arbeit bewußt ist, kann man sie stellenweise durchaus mit Gewinn lesen.


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Fotos: Bundesarchiv.
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