Sonntag, 27. Februar 2011

Die sportliche Familie Zuranow

Larissa Zuranowa, geb. Gurwitsch.


Bereits im Oktober 2010 hatte mich der Schützenkollege von Jewish Marksmanship nach einem Bild der sowjetischen Flintenschützin Larissa Gurwitsch gefragt. (Im Englischen wird der Familienname als Gurvich transkribiert.) Damals konnte ich mit diesem Namen nicht viel anfangen, doch eine gründliche Recherche hat nunmehr neben dem obigen Foto auch einige Details ihres Lebens zutage gefördert.

Larissa Semjonowna Gurwitsch kam am 10. Mai 1947 in Bessporno in einer jüdischen Familie zur Welt. Später studierte sie am Medizinischen Institut in Rostow am Don. Im Jahre 1963 begann sie unter der Anleitung ihres Vaters in Jekaterinburg, das damals Swerdlowsk hieß, mit dem sportlichen Flintenschießen. Sie spezialisierte sich auf die Disziplin Skeet und brachte es hier zu großen Erfolgen. So war Gurwitsch vierfache Weltmeisterin (1967, 1970, 1974, 1975), zehnfache Europameisterin (erstmals 1965) und zwölffache Meisterin der UdSSR. Zudem hat sie mehrere Rekorde aufgestellt. Damals startete sie für den Armeesportklub.
Ihre Lieblingswaffen waren Flinten der Typen IZh-12 und IZh-25, die in Ishewsk speziell für sie angefertigt wurden. Dies war damals nicht selbstverständlich, denn die Flinten aus einheimischer Produktion waren bei den sowjetischen Sportschützen nicht besonders beliebt. Daraus verschoß die zierlich wirkende Frau weit über 10000 Patronen pro Jahr.

Später heiratete sie den ebenfalls äußerst erfolgreichen Flintenschützen Jurij Zuranow (geb. 1936) und heißt seitdem Larissa Zuranowa. Beide arbeiten seit dem Ende ihrer aktiven Laufbahn in der Mitte der 80er Jahre als Trainer, zunächst in Rostow und später in Jekaterinburg, das eines der Zentren des Wurfscheibenschießens in Rußland ist. Derzeit lebt und arbeitet sie in Nowosibirsk. Zu ihren Schützlingen zählt auch ihr Sohn Konstantin Zuranow (geb. 1972), der u.a. an der Olympischen Spielen 2008 teilgenommen hat - natürlich als Skeetschütze. So hat sich mittlerweile eine ganze Schützenfamilie entwickelt, auch wenn Jurij Zuranow schon im März 2008 verstorben ist.


Jurij Zuranow.


Bibliographie

Pusk.by (Biographie)

Ledi stendowoj strelby (Biographie und Waffen)

Legendy sowjetskogo stendogo sporta (Biographie)

W Jekaterinburge budut streljat

Mega.KM.ru (Waffen)

Ohota2010.ru (Waffen)

W strelbe pobeshdajut silnye duchom



Konstantin Zuranow.


Verwandte Beiträge:
Schießsport in der ehemaligen UdSSR und Rußland
Zwei Schützengenerationen
Moisej Itkis (1929-2009)
Das olympische Abenteuer der Familie Emmons
Blogosphäre: Jewish Marksmanship

Fotos: www.rcsp-shvsm.ru, sportlib.ru.

Freitag, 25. Februar 2011

25.02.2011: Gedicht des Tages

Angesichts des sonnigen und zugleich sehr kalten Winterwetter, das seit Tagen hier in Sachsen-Anhalt vorherrscht, mußte ich an Alexander Puschkins Gedicht über den Wintermorgen denken: "Ein schöner Tag dank Frost und Sonne ..." Das Licht der Sonne ist in den nördlichen Breitengraden ganz anders als bei uns. Derzeit fehlt hierzulande allerdings der Schnee.

Wintermorgen

Ein schöner Tag dank Frost und Sonne!
Noch schlummerst du, grazile Wonne –
Erwache nun, mein Sonnenschein:
Mach's Auge auf, das Glück geschlossen,
Zur nordischen Aurora stoßend
Als Stern des Nordens mir erschein!

Des Abends noch der Sturm uns zürnte,
Am trüben Himmel Düstres stürmte;
Der Mond wie'n Fleck, blass und gezaust,
In finstren Wolken gelb erstrahlte
Und du saßt traurig und verhalten –
Doch jetzt … schau nur zum Fenster raus:

Unter des Himmels heller Bläue,
Wie'n schöner Teppich uns erfreuend,
Liegt, in der Sonne strahlnd, der Schnee;
Der lichte Wald – ein dunkler Hüne,
Die Tannen unterm Raureif grünen,
Das Flüsschen unterm Eis glänzt schön.

Das Zimmer ist durch's Bernsteinschimmern
Erleuchtet. Und mit frohem Glimmern
Die angeheizten Öfen schelln.
's ist angenehm, am Bett zu träumen,
Doch wolln wir nicht, das Pferd zu zäumen
Zur Schlittenfahrt, jetzt schnell befehln?

Durch morgendlichen Schnee zu gleiten
Soll uns das wilde Pferdchen leiten,
Geliebte, das unruhig schnaubt,
Damit das nackte Feld wir sehen,
Die Bäume kahl zusammenstehend,
Und's Ufer, das mir lieb und traut.


2011.01.07--15.36.17


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26.01.2011: Text des Tages
31.01.2009: Spielfilm des Tages

Mittwoch, 23. Februar 2011

23.02.2011: Musik des Tages

Heute wird in Rußland der Tag des Vaterlandsverteidigers begangen - eine Mischung aus deutschem Männertag und allgemeiner Verehrung des Soldatentums. Aus diesem Anlaß nachfolgend ein Video mit dem Lied "Po polju tanki grochotali" (dt.: Auf dem Feld polterten die Panzer), vorgetragen von den Gebrüdern Grim und Lera Masskwa.
S prasdnikom, mushiki! ;-)



Samstag, 19. Februar 2011

Spetsnaz XII: KGB-Truppen in der DDR

Vor kurzem bin ich während eines Besuchs im Deutsch-russischen Museum Karlshorst auf zwei dort ausgestellte Urkunden aufmerksam geworden, die nicht recht in das Gesamtbild der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) passen. Mit der Urkunde Nr. 1 wurde ein Soldat belobigt, wobei darauf das Konterfei von Feliks Dzierżyński, dem Gründer der sowjetischen Tscheka, abgebildet ist. Urkunde Nr. 2 war für den Sieger in einem Sportwettkampf – allerdings prangt darauf nicht das Wappen des Armeesportklubs, sondern der Sportorganisation Dynamo, in der vor allem Angehörige der anderen Sicherheitsbehörden organisiert waren. Beide Urkunden waren im Truppenteil mit der Feldpostnummer (w/tsch p/p) 70803 ausgestellt worden. Eine daran anknüpfende Recherche ergab, daß es sich dabei um das 105. Regiment des KGB gehandelt hat (dazu unten ausführlich).

Dieses Regiment war nicht die einzige in der DDR stationierte sowjetische Militäreinheit, welche nicht dem Verteidigungsministerium, sondern dem Komitee für Staatssicherheit (KGB) unterstand. Da selbige Truppenteile kaum bekannt waren (und es bis heute sind), sollen sie nachfolgend kurz vorgestellt werden – auch wenn es sich um eine rein historische Darstellung handelt. Die Strukturen der sowjetischen Sicherheits- und Nachrichtendienste in Ostdeutschland werden hierbei nur am Rande gestreift.


Kontrollpunkt eines Postens der NKWD-Truppen an der „Straße des Lebens“ (nahe Leningrad, ca. 1942/43).


Truppen des NKWD/MWD in der SBZ und frühen DDR

Während der Frühjahrsoffensive der Roten Armee 1945 kamen auch Einheiten der Truppen des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten der UdSSR (russ.: Wojsk NKWD SSSR) nach Deutschland. Bei den Oberbefehlshabern der Fronten waren Stäbe für die Sicherung des Hinterlandes gebildet worden, die mit Personal aus dem NKWD besetzt waren und denen die NKWD-Einheiten unterstanden. Deren Aufgaben waren insbesondere die Bewachung deutscher Kriegsgefangener, die Zerschlagung noch intakter deutscher Militäreinheiten, die sich bisher der Roten Armee entzogen hatten, die Bekämpfung zurückgebliebener Aufklärungs- und Diversionskräfte (Stichwort: Werwolf) und das Vorgehen gegen Plünderer und Marodeure (insbesondere aus den eigenen Reihen). Kurzum: Sie sollten für Ruhe und Ordnung im Rücken der sowjetischen Front sorgen und ein Aufflammen des von der NS-Propaganda angekündigten Partisanenkrieges verhindern.

Bei Kriegsende im Mai 1945 waren vier verschiedene Sicherheitsbehörden der UdSSR im besetzten Deutschland angekommen. Erstens die militärische Spionageabwehr Smersch, die es doppelt gab – einmal in der Roten Armee und einmal in der Seekriegsflotte. (Smersch existierte von 1943 bis 1946 war während der Sowjetzeit die einzige Abwehrorganisation, die innerhalb der Streitkräfte arbeitete und dabei nicht einer Behörde außerhalb des Militärs unterstand.) Drittens das Volkskommissariat für Staatssicherheit (NKGB), ab 1946 Ministerium (MGB). Dieses war 1943 (wieder-)gegründet worden und umfaßte die zivile Spionageabwehr, die politische Auslandsaufklärung und weitere polizeiliche und nachrichtendienstliche Funktionen. Viertens das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKWD), ab 1946 ebenfalls Ministerium (MWD). Hinzu kam später noch die Abteilung Inneres der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), welche für den Aufbau und die Kontrolle der deutschen Verwaltungsbehörden einschließlich der Polizei verantwortlich war.


Berlin-Karlshorst, 8. Mai 1945: Soldaten des 105. Grenzregiments sichern das Gelände der Wehrmachtspionierschule, in dem die Kapitulation der deutschen Streitkräfte unterzeichnet wird.


Das NKWD/MWD war in der Sowjetunion zu dieser Zeit ein „Gemischtwarenladen“, dem verschiedenste Behörden unterstanden: Die allgemeine Schutz-, Verkehrs- und Kriminalpolizei (Miliz), der Grenzschutz, die Inneren Truppen (eine Art Bereitschaftspolizei), die Straflager (GULag), die Kriegsgefangenenlager (GUPWI), die Feuerwehr, der Luftschutz (MPWO), das Paß- und Meldewesen, die Standesämter u.a. Somit ist es unzutreffend, vom NKWD ausschließlich als einer „Geheimpolizei“ zu sprechen, zumal dieses Tätigkeitsfeld 1943 in das NKGB ausgelagert worden war. Der stellvertretende Volkskommissar für innere Angelegenheiten Iwan Serow war in den Jahren 1945/46 die maßgebliche Figur im sowjetischen Sicherheitsapparat in Deutschland. Ihm unterstanden (in diversen Funktionen) sämtliche der genannten Behörden.

Von den genannten Sicherheitsbehörden verfügte nur das NKWD über einen militärischen Zweig in Gestalt der Grenz- und Inneren Truppen. Mithin wurden personalintensive Sicherheitsaufgaben in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) diesen Einheiten übertragen. Im Frühjahr 1945 waren dies noch die o.g. Aufgaben, hinzu kam noch der allgemeine Polizeidienst, da die deutschen Sicherheitsstrukturen aufgehört hatten, zu existieren. Des weiteren oblag ihnen die Überwachung der Demarkationslinien zwischen den Besatzungszonen (einschließlich der neuen deutschen Ostgrenze) sowie die Bewachung von Internierten, die gem. Besatzungsrecht in den Speziallagern untergebracht wurden*.


Rekonstruktion der Uniform eines Offiziers der Grenztruppen (1943/45). Man beachte die charakteristische grüne Mütze.


In den Jahren 1946/47 erfolgte nach der Abberufung Serows eine Diversifizierung der sowjetischen Sicherheitsorgane in der SBZ. Die militärische Gegenspionage Smersch wurde aufgelöst und in das Ministerium für Staatssicherheit integriert. Das MWD verlor die meisten Kompetenzen in der SBZ; seine polizeilich-nachrichtendienstlichen Strukturen, die zeitweise parallel zu denen des MGB existiert hatten (inkl. Gefängnissen) wurden aufgelöst bzw. in das MGB überführt. Der große Gewinner dieser Reorganisation war also das MGB.
Dem MWD verblieben die Lager sowie einige Aufsichtskompetenzen sowie die besagten Truppenteile, die nunmehr alle zu den Inneren Truppen gezählt werden. Ende 1946 befanden sich 7 Regimenter des MWD (ca. 8.000 Mann) in der SBZ; 1947 waren es nur noch ca. 5.500 Mann. Diese Reduzierung hängt auch mit dem Aufbau deutscher Polizeikräfte zusammen, die viele der bisher den MWD-Truppen obliegenden Aufgaben übernahmen. Formell gehörten letztere zwar noch zum Innenministerium, operativ unterstanden sie in der SBZ jedoch ausschließlich Dienststellen des MGB. Versorgt wurden sie über die Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen (GSBT), also über das Verteidigungsministerium.


Die erste Fahne des 105. Grenzregiments.


Zwischen 1945 und 1957 waren verschiedene Einheiten der Truppen des NKWD/MWD/MGB in Ostdeutschland stationiert. Am 01.07.1945 gab es noch 11 Grenzregimenter, bis zum 01.01.1947 hatte sich diese Zahl auf 5 reduziert. Zu Beginn der 1950er Jahre waren es wieder mehr geworden (1953: 10 Schützenregimenter der Inneren Truppen). Am 15.06.1956 unterstanden der Verwaltung der Inneren Truppen des MWD in der DDR noch 5 Schützenregimenter, 1 selbständiges Mot. Schützenbataillon, 1 Ausbildungsregiment, 1 Fernmeldebataillon, 1 Musikkorps sowie kleinere Unterstützungseinheiten. Ein Jahr später wurde diese Verwaltung aufgelöst; die unterstellten Einheiten verlegten zumeist wieder in die Sowjetunion oder wurden ebenfalls aufgelöst.

Da die Inneren Truppen faktisch die Exekutivorgane des MGB-Apparates waren, wurden sie entsprechend ihrer o.g. Aufgaben sehr dezentral eingesetzt. Beispielsweise gehörten im Jahre 1947 zwanzig MWD-Soldaten zur MGB-Operativgruppe Neuruppin; im übrigen bestand diese Gruppe, die für einen Kreis zuständig war, aus 8 operativen MGB-Offizieren, 8 Dolmetschern sowie weiterem Hilfspersonal.


Soldaten und Offiziere des 105. Regiments während eines Ausflugs in den Potsdamer Parks (1967).


Die soeben gemachten Ausführungen vermitteln nur einen groben Überblick über die Entwicklung des sowjetischen Sicherheitsapparates in der SBZ bzw. DDR. Zur Vertiefung sei u.a. auf die Texte von Foitzik, Kozlov und Petrov verwiesen. Innerhalb der UdSSR folgten bis zum Ende der 1950er Jahre verschiedene Reorganisationen, die sich insbesondere in den Namen und der Zuordnung der hier behandelten Militäreinheiten niederschlugen. So wurde 1953 nach Stalins Tod das MGB aufgelöst und wieder in das MWD integriert. Ein Jahr später wurde dieser Schritt wieder rückgängig gemacht, nachdem der früher fast allmächtige Sicherheitschef Lawrentij Berija hingerichtet worden war. Im Jahr 1954 erfolgte die Gründung des Komitees für Staatssicherheit (KGB) als De-facto-Ministerium. Die Inneren Truppen waren seit 1947 dem MGB unterstellt, bevor sie wieder in den Geschäftsbereich des MWD zurückkehrten.

Bis Mitte der 1950er Jahre wurde der Umfang des sowjetischen Sicherheitsapparates in der DDR immer weiter reduziert und die ihm obliegenden Aufgaben an ostdeutsche Dienststellen übertragen. Infolgedessen haben fast alle hier dislozierten Truppenteile des MWD/MGB die DDR verlassen. Im folgenden soll es um jene gehen, die auch danach noch in Ostdeutschland stationiert waren.


Eine Funkstation der Nachrichtenkompanie des 105. Rgt. in den frühen Jahren.


Das 105. Regiment

Aufgestellt wurde das 105. Grenz-Regiment der Truppen des NKWD am 26. Januar 1942 im belagerten Leningrad. Seine Hauptaufgabe bestand in der Sicherung der im Winter 1941/42 eingerichteten „Straße des Lebens“, über die die nahezu vollständig eingeschlossene Stadt versorgt wurde. Ferner wurden – wie in vielen Einheiten des NKWD, die nicht unmittelbar an der Front eingesetzt waren, üblich – Scharfschützengruppen aufgestellt, die temporär verschiedenen Verbänden der Roten Armee unterstellt waren und mit ihnen gemeinsam kämpften**. Im Verlauf des Krieges sollen die Scharfschützen des 105. Regiments insgesamt 6957 gegnerische Soldaten getötet haben.

Im Sommer 1942 verlegte das Regiment an die Wolchow-Front; 1944 kam es im Zuge des Vormarsches der 3. Baltischen Front während der Rigaer Operation nach Pskow und Riga. Dort war das unmittelbare Hinterland der sowjetischen Truppen zu sichern. Im Sommer 1944 wurde das 105. Grenzregiment nach Weißrußland in den Raum Grodno befohlen. In dieser Region galt es vor allem, die tausenden deutschen Soldaten, die infolge der Operation Bagration nunmehr weit hinter der Frontlinie zurückgeblieben waren, „einzusammeln“ und in Kriegsgefangenenlager zu verbringen. Außerdem waren vor dem Rückzug der Wehrmacht sowohl in der Ukraine als auch in Belorußland zahlreiche Agenten deutscher Nachrichtendienste zurückgelassen worden, die ausfindig gemacht werden sollten.



Im März 1945 wurde das Regiment der auf Berlin marschierenden 1. Belorussischen Front von Marschall Shukow unterstellt. Hier bestanden die Aufgaben wieder in der Eskortierung deutscher Kriegsgefangener und der allgemeinen Sicherung des Hinterlandes, etwa durch die Bewachung von Brücken und Kraftwerken. Ende April 1945 verlegte das 105. Grenzregiment im Eilmarsch in den Raum Berlin; Anfang Mai befand sich der Regimentsstab in Friedrichsfelde. Der NKWD-Bevollmächtigte dieser Front, der oben bereits erwähnte Iwan Serow, hatte von Stalin persönlich den Befehl erhalten, nach Hitler und den anderen „Granden“ des Dritten Reiches zu fahnden. Zu diesem Zweck wurden von Serow auch Einheiten des 105. Regiments eingesetzt. Die Soldaten nahmen somit in vorderster Linie an der Erstürmung von Reichstag und Reichskanzlei teil. Ferner bewachten sie das Gelände der Pionierschule in Berlin-Karlshorst während der Unterzeichnung der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945. Dabei ergab es sich, daß der Federhalter des Generalfeldmarschalls Keitel seinen Dienst versagte und ihm der im 105. Grenzregiment dienende Sergeant Bergin einen Kugelschreiber reichen mußte.

Für Verdienste während des Zweiten Weltkrieges hat das 105. Grenzregiment den Rotbannerorden, den Orden des Roten Sterns sowie den Ehrennamen „Rigaer“ erhalten; weiters wurden 4320 seiner Soldaten mit Orden und Medaillen geehrt.


Auf dem Hof der Kfz-Kompanie in Rummelsburg.


Nach der Kapitulation änderten sich die Aufgaben des Regiments, das zu dieser Zeit aus 3 Bataillonen bestand, ein wenig. Seine Soldaten übernahmen allgemeine Polizeifunktionen im Stadtgebiet von Berlin, bewachten und eskortierten Kriegsgefangene und versuchten, den Exzessen ihrer Kameraden Einhalt zu gebieten. Im Frühjahr 1945 wurde dazu das Stadtgebiet Berlins in verschiedene Sektoren eingeteilt, die jeweils einem NKWD-Regiment zugewiesen worden. Die Soldaten des 105. patrouillierten laut einem Befehl vom 17.05. in Lichtenberg, Friedrichsfelde und Karlshorst, im August waren sie dann für Weißensee, Lichtenberg, Pankow und Prenzlauer Berg verantwortlich.

Ab Ende Oktober – Berlin war mittlerweile eine Vier-Sektoren-Stadt geworden – übernahmen Teile des 105. Grenzregiments die Kontrollen zwischen dem sowjetischen Sektor von Groß-Berlin und der SBZ. Ferner wurden Mannschaften zur Unterstützung von Operativgruppen der Smersch gestellt.
1949 hatte sich die Tätigkeit des 105. Schützenregiments der Inneren Truppen schon sehr stark auf die Sicherung sowjetischer Dienststellen in Berlin und dessen Umland konzentriert.
In den folgenden Jahren befanden sich große Teile des Regiments in Berlin-Weißensee, um 1963 nach Karlshorst „zurückzukehren“.


Ausbildung im Gelände.


Bis zum Abzug des 105. Regiments aus dem wiedervereinigten Deutschland wurde es mehrfach umbenannt, wobei lediglich die Ordnungsnummer erhalten blieb. Zunächst 105. Grenzregiment, schon kurz nach Kriegsende 105. Schützenregiment der Inneren Truppen, danach 105. Motorisiertes Schützenregiment der Inneren Truppen, sodann 105. Spezial-Regiment des KGB, später wohl wieder 105. Mot. Schützenregiment des KGB und zum Schluß (seit 1989) 105. Spezial-Abteilung bzw. 105. Grenzabteilung.
Mit der letzten Namensänderung kehrte die Einheit auch formal wieder zu den Grenztruppen zurück. De facto und de jure waren die dort dienenden Soldaten seit 1958 immer „Pogranitschniki“ gewesen, doch waren sie während ihres Aufenthaltes in der DDR als reguläre Soldaten der Sowjetarmee getarnt. Statt der Grenzeruniform wurde die der motorisierten Schützen der Landstreitkräfte getragen, inkl. aller Effekten. Außenstehende wurden lediglich stutzig, als sie bemerkten, daß diese Soldaten nicht den Tag der Sowjetarmee (23. Februar), sondern den Tag des Grenzsoldaten am 28. Mai festlich begingen.

Die Jahre 1957/58 brachten größere Veränderungen für das 105. Regiment. Zum einen wurde im Februar die Verwaltung der Inneren Truppen des MWD in der DDR aufgelöst. Infolgedessen gewann es den Status eines selbständigen Regiments und gehörte nun wieder zu den Grenztruppen der UdSSR. Zweitens wurde die Hauptverwaltung der Grenztruppen aus dem Innenministerium herausgelöst und dem Komitee für Staatssicherheit zugeordnet. Damit war auch das 105. Regiment für seine besonderen Aufgaben in der DDR aufgestellt, denn es war längst kein klassisches Infanterie- oder Polizeiregiment mehr.


Eines der wenigen Fotos, das einen Soldaten des 105. Regiments in der DDR in Grenztruppenuniform ("ПВ") zeigt.


Seine Aufgaben bestanden hauptsächlich im Wach- und Sicherungsdienst. Die in Berlin stationierten Teile bewachten die sowjetische Botschaft (Unter den Linden) inklusive Nebengebäuden. Anfang der 1950er Jahre gehörten dazu 41 Objekte. Ferner mußten die offizielle KGB-Residentur in Karlshorst sowie weitere (mehr oder minder geheime) Objekte des KGB in der gesamten DDR gesichert werden. (Dazu zählte in den 80ern auch Wladimir Putins Büro in Dresden.) Das zweite große Tätigkeitsfeld lag im Süden der DDR und hieß Wismut. Anfang der 50er Jahre hatte dort ein komplettes MWD-Regiment den Uranabbau bewacht (153 Wachobjekte). Nachdem diese Aufgaben sukzessive an DDR-Behörden übergeben worden war, beschränkte sich die Tätigkeit der KGB-Einheiten auf die Begleitung der Transporte von Sachsen bis nach Brest an der polnisch-sowjetischen Grenze.

Nicht nur die Aufgaben, sondern auch die Organisation der Einheit änderten sich im Laufe seiner Geschichte mehrfach. Mitte der 1980er Jahre gliederte sich das 105. Spezialregiment wie folgt:
  • Berlin-Karlshorst: Stab, 4 Wachkompanien, 1 Nachrichtenkompanie, 1 Kommandantendienst-Kompanie, 1 Versorgungskompanie, 1 Chemischer Zug, Unteroffiziersschule, Militärorchester;
  • Schneeberg (Sachsen, früher Bezirk Karl-Marx-Stadt): 20. selbständiges Wachbataillon mit 4 Kompanien für die Begleitung der Urantransporte (Feldpostnr.: 27304; in den Jahren 1954 bis 1957: 11. Grenzregiment mit Standort Karl-Marx-Stadt).
Damit war – neben der Wismut-Bewachung – auch das bis 1957 eigenständige Fernmeldebataillon des MWD in verkleinerter Form im 105. Regiment aufgegangen. Die genannte Fernmeldekompanie des ist jedoch vom weiter unten behandelten 44. Fm-Regiment zu unterscheiden; letzteres hatte ein besonderes Tätigkeitsfeld.


Soldaten des 105. vor dem Hauptgebäude der KGB-Residentur in Karlshorst. Gut zu erkennen sind die Uniformen der Sowjetarmee ("CA").


Das Personal des 105. Regiments bestand großteils aus Wehrpflichtigen, die dort ihren zweijährigen Grundwehrdienst ableisteten. Besonders fähige Wehrpflichtige wurden, wie im sowjetischen Militär üblich, zu Unteroffizieren ausgebildet. Die Offiziere und Berufsunteroffiziere kamen aus den Grenztruppen. Offiziere hatten in der Regel an einer Offiziershochschule der Grenztruppen oder der Sowjetarmee studiert. Letzter Kommandeur im Jahre 1991 war Oberst Morkowkin.
Die Lebensbedingungen im 105. Regiment sollen sich nach Zeitzeugenberichten kaum von denen anderer sowjetischer Einheiten, die in der DDR stationiert waren, unterschieden haben. So hatte man etwa in Schneeberger Kaserne eine Schweinezucht aufgebaut, um so Versorgungsengpässen beizukommen. Trotz ihrer besonderen Aufgaben und dem elitären Titel einer Einheit „spezieller Bestimmung“ waren die Soldaten des 105. kaum privilegiert.

Nach der deutschen Wiedervereinigung begann 1991 – nach 46 Jahren ununterbrochener Präsenz in Deutschland – der Abzug der 105. Grenzabteilung. Am 28.04.1992 verließen die letzten Soldaten Berlin, wo sie bis zum Schluß Wachdienst in der nunmehr rußländischen Botschaft geleistet hatten. Die Abteilung kam in die Ukraine und wurde, unter Beibehaltung ihres Namens, in den neuformierten ukrainischen Grenzschutz aufgenommen. Erster Standort war des Gebiet Lwiw (dt.: Lemberg), später verlegte sie nach Tschernihiw (russ.: Tschernigow). Dort befindet sich heute auch das Museum der Einheit.

Nebenbei: Das 105. Regiment ist nicht mit der sowjetischen Berlinbrigade zu verwechseln, welche gleichfalls in Karlshorst, allerdings in einer anderen Kaserne, stationiert war. Diese war ein regulärer Verband der Sowjetarmee. Ihre korrekte Bezeichnung lautete 6. Selbständige Garde Mot. Schützenbrigade (Feldpostnummer 64944) und sie bestand aus 3 Panzer- und 3 Mot. Schützenbataillonen sowie Unterstützungseinheiten.


Ein Funker im Gelände.


Das 10. Wachbataillon

Seit 1946 oblag die Spionageabwehr in den sowjetischen Streitkräften nach Auflösung von Smersch (wieder) dem Ministerium für Staatssicherheit, ab 1954 dem KGB. Konkret zuständig war dessen Dritte Hauptverwaltung. Diese bildete innerhalb der Militärbehörden und bei den Stäben der Großverbände sog. Sonderabteilungen, welche die konkrete Abwehrarbeit vor Ort leisteten. Das war auch bei den in der DDR stationierten Truppen der GSSD/WGT der Fall.

Die Verwaltung der Sonderabteilungen (UOO) bei der GSSD befand sich in Potsdam, temporär möglicherweise auch in Karlshorst. Die 3. HV des KGB lehnte sich an die Militärstrukturen an und hatte somit auch eine eigene, von anderen Diensteinheiten des Komitees unabhängige Führungs- und Kommunikationsstruktur. Neben der Zentrale existierten noch 7 Sonderabteilungen in den sechs Armeen der Landstreitkräfte und der 16. Luftarmee.

Der Potsdamer UOO unterstand unmittelbar das 10. Selbständige Wachbataillon, ebenfalls in Potsdam stationiert, welches die Feldpostnummer 74487 führte. Über die Zusammensetzung der Einheit und die konkreten Aufgaben liegen nahezu keine Informationen vor. Neben der – logischen – Sicherung der Dienstobjekte der Sonderabteilungen erscheint manches denkbar, was jedoch nach dem derzeitigen Kenntnisstand des Verf. nicht belegt ist und kaum über den Status von Gerüchten hinausgeht.


Gemeinsame Ausbildung von SPW-Besatzungen der Kfz-Kompanie und Soldaten einer Wachkompanie des 105. Rgt. nahe Berlin.


Das 44. Fernmelderegiment

In der Sowjetunion existierte ein vom öffentlichen Telefonnetz unabhängiges Leitungsnetz, an das nur wichtige Dienststellen von Partei, Regierung, Militär und Sicherheitsdiensten angeschlossen waren. Zusätzlich konnten Telefongespräche über dieses Netz mit dem System „WTsch“ u.ä. verschlüsselt werden (zu den technischen Aspekten und Begrifflichkeiten vgl. hier). Einrichtung, Wartung und Betrieb dieses Netzes der Regierungsfernmeldeverbindungen oblag zunächst dem NKWD/MWD, dann nach 1954 dem KGB. Dort war konkret die Abteilung „S“, welche ab 1959 Abteilung für Regierungsverbindungen hieß, zuständig. 1969 wurde diese Abteilung zur Verwaltung aufgewertet. (Bisweilen wird für dieses Tätigkeitsfeld in der Literatur auch der Begriff Spezialnachrichtenverbindungen verwendet. In der RF ist heute der FSO dafür zuständig.)

Ihr waren für den technischen Teil ihrer Aufgabe die Truppen der Regierungsverbindungen unterstellt. Im Jahre 1960 umfaßte diese Truppen in der UdSSR 15 Fernmelderegimenter; weitere 8 Bataillone, 6 Kompanien und 3 Knotenpunkte waren im Ausland disloziert. In den folgenden Jahren wurde die Zahl dieser Truppen von ca. 13.000 auf knapp 4.200 Mann reduziert, die sich auf 4 selbständige Fernmelderegimenter verteilten: das 3. Regiment in Baku, das 29. im Kaukasus, das 35. in der Ukraine und das 44. in der DDR, das nachfolgend im Fokus steht. (Notabene: Dies ist keineswegs der gesamte Personalbestand der Abteilung/Verwaltung für Regierungsverbindungen, sondern nur der ihres militärischen Zweiges, also der „Kabelaffen“ und „Strippenzieher“.)


Scharfschütze mit SWD Dragunow.


Über die Geschichte des 44. Regiments für Regierungsverbindungen des KGB ist kaum etwas bekannt. In einer Liste von NKWD-Einheiten aus dem Jahre 1943 ist es nicht verzeichnet. Für das Jahr 1952 wird ein 11. Fernmelderegiment des MWD in der DDR genannt. Derartige Fernmeldekräfte waren bereits seit 1945 in der SBZ anwesend, um ein gesichertes Kommunikationsnetz für wichtige Dienststellen der Besatzungsbehörden und -truppen aufzubauen. Schließlich folgten sie bereits während der Kämpfe des Zweiten Weltkrieges stets der Front, um die höheren Stäbe miteinander und mit dem Hinterland zu verbinden.
Der Stab des 44. Regiments hat sich in Wittenberg befunden; dort soll ebenfalls das unterstellte 107. Bataillon für Regierungsverbindungen stationiert gewesen sein. Die Informationen über die innere Organisation und die konkreten Aufgaben des Regiments sind leider sehr spärlich. Anno 1960 waren in der DDR 3 Bataillone für Regierungsverbindungen stationiert; möglicherweise ist diese Zahl auch später konstant geblieben.

Die Feldpostnummer des 44. Regiments lautete 34008. Sein Personal dürfte im Kern ebenfalls aus Wehrpflichtigen bestanden haben. Desgleichen darf davon ausgegangen werden, daß die Einheiten des Regiments nach außen als reguläre Fernmeldetruppe der Sowjetarmee abgetarnt waren. Möglicherweise war nicht einmal den einfachen Soldaten bekannt, daß ihre Einheit dem Komitee für Staatssicherheit und nicht dem Verteidigungsministerium unterstellt war. (Diese Annahme könnte ebenfalls für das o.g. 10. Wachbataillon zutreffen, das wohl ohnehin vornehmlich in Objekten der Sowjetarmee zum Einsatz gekommen ist.)


ABC-Ausbildung.


Neben dem 44. Regiment gab es noch den 56. Selbständigen Knotenpunkt der Regierungsverbindungen in Cottbus-Dissenchen. Dieser führte die Feldpostnummer 11465.
Im übrigen waren auch ostdeutsche Dienststellen, namentlich des MfS, in den Betrieb des WTsch-Netzes eingebunden. An selbiges waren natürlich auch die Partei- und Staatsführung der DDR sowie Führungsorgane der NVA angeschlossen.


Der Musikzug des 105. Regiments.


Hoffentlich konnte dieser Artikel einige interessante Einsichten vermitteln, obwohl es sich um ein rein historisches Thema handelt, das nur bedingt etwas mit den Sicherheitsbehörden des heutigen Rußlands zu tun hat, die das eigentliche Thema der Speznas-Reihe sind.


Zeremonie im 105. Spezialregiment des KGB mit der dritten Regimentsfahne (1970er oder 80er Jahre).


Anmerkungen

* Vgl. hierzu ausführlich S. Mironenko / L. Niethammer / A. v. Plato (Hrsg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, 2 Bde., Berlin 1998, sowie ergänzend A. Hilger / U. Schmidt / G. Wagenlehner (Hrsg.): Sowjetische Militärtribunale, 2 Bde., Köln/Weimar/Wien 2001/2003.

** Vgl. zum Thema Scharfschützen auch Iwanow et.al., S. 181 ff.




Funkstationen der Fernmeldekompanie des 105. Regiments werden entfaltet.



Bibliographie

Aleksandrow, A.: Materialien zu den Grenztruppen, www.soldat.ru.

Aleksandrow, A. / Iwanow, I.: Materialien zu den Inneren Truppen, www.soldat.ru.

Bailey, G. / Kondraschow, S. / Murphy, D.: Die unsichtbare Front - Der Krieg der Geheimdienste im geteilten Berlin, Berlin 2000.

Bekesi, L. / Török, G.: KGB & Soviet Security Uniforms & Militaria 1917-1991, Ramsbury 2002.

Foitzik, J.: Organisationseinheiten und Kompetenzstruktur der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, in: Mironenko / Niethammer / v. Plato (Hrsg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Bd. 1, Berlin 1998, S. 117 ff.

Iwanow, I. et.al.: Geschichte der Grenztruppen der UdSSR, Berlin 1988.

KGB SSSR, shieldandsword.mozohin.ru (Organisationsstrukturen).

Klimow, A.: Obespetschenie obschtschestwennoj besoipanosti Wnutrennimi wojskami NKWD-MWD SSSR na territorii Sapadnoj Ukrainy w 1940-1950-e gody, in: Woenno-istoritscheskij Shurnal 12/2008, S. 13 ff.

Klimow, A.: Primenenie soedinenij i tschastej Wnutrennich wojsk NKWD-MWD SSSR sa granizej w 1940-1950-e gody, in: Woenno-istoritscheskij Shurnal 1/2010, S. 43 ff.

Kozlov, V.: Die Operationen des NKVD in Deutschland während des Vormarsches der Roten Armee (Januar bis April 1945), in: Mironenko / Niethammer / v. Plato (Hrsg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Bd. 1, Berlin 1998, S. 132 ff.

Kratkaja chronika istorii organow i wojsk prawitelstwennoj swjasi, www.aboutphone.info.

Maslow, K. et. al.: Ispytannye wojnoj - Pogranitschnye wojska 1939-1945 gg., Moskau 2008.

Petrov, N.: Die Apparate des NKVD/MVD und des MGB in Deutschland 1945-1953, in: Mironenko / Niethammer / v. Plato (Hrsg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Bd. 1, Berlin 1998, S. 143 ff.

Regierungsnachrichtenverbindungen ..., scz.bplaced.net.

Slushiwschie w 105-m. Musej, www.pogranec.ru.

Soedinenija i tschasti Gruppogo podtschinenija, www.gsvg.ru.

105-j pogranitschnyj polk wojsk NKWD (2 f)/ 105-j pogranotrjad, g. Tschernigow, w/tsch 2253, srpo.ru.





Der Weg des 105. Regiments: Von Leningrad über Berlin in die Ukraine.


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Spetsnaz VIII: Geschichte der Marineinfanterie (1)

Fotos: www.pogranec.ru, rkka.ru, www.off-road-drive.ru.

Donnerstag, 17. Februar 2011

Keine Revolution, eher ein Staatsstreich


Die Ereignisse, die während der vergangenen Wochen Tunesien, Ägypten und nun auch andere arabische Länder erschüttert haben, ließen uns hier in Deutschland zunächst überrascht und ratlos zurück. Mittlerweile scheint sich jedoch eine Interpretation als „demokratische Revolutionen“ durchgesetzt zu haben. Ich bin demgegenüber sehr skeptisch, denn insofern scheint – gerade auch unter Journalisten – sehr viel Wunschdenken am Werk zu sein, das eigene Ideen in die tatsächlich ablaufenden Ereignisse hineinprojiziert.

Zunächst einmal die Grundfrage: Was versteht man unter „Demokratie“? Dieser regelmäßig strapazierte Begriff ist so schillernd und vieldeutig, daß die, die ihn gebrauchen, seine Bedeutung sauber definieren sollten. Schließlich wurde auch der frühere Präsident Mubarak mehrfach gewählt. Überdies bestand in beiden Staaten die Hauptforderung in höheren Löhnen, vielleicht sollte deshalb besser von einer sozialen Revolution gesprochen werden.

Zweitens: Tunesien. Dort hat Präsident Ben Ali sein Amt aufgegeben und ist ins Exil gegangen. Dafür wurden einige „Oppositionspolitiker“ (was auch immer dieses Wort unter den konkreten Bedingungen Tunesiens bedeuten mag) mit an der Regierung beteiligt. Viel mehr ist in Tunis bisher nicht geschehen. Man kann also nur von einem partiellen Elitenwechsel sprechen, doch keineswegs von einer „Demokratisierung“. Letztere könnte irgendwann kommen, doch ob und wann ist zum jetzigen Zeitpunkt fraglich.
Des weiteren hat der teilweise Zusammenbruch des tunesischen Sicherheitsapparates bereits jetzt negative Auswirkungen auf Europa. Gemeint ist der Ansturm illegaler Einwanderer auf Italien. Diese Ausweitung der tunesischen „Revolution“ zeigt ganz deutlich, daß hehre Ideale in der internationalen Politik nicht weiterhelfen, denn hinsichtlich der Migrantenfrage hat sich die alte Regierung unter Ben Ali offenbar positiver verhalten.

Zweitens: Ägypten. Hierzu hat George Friedman eine äußerst lesenswerte Analyse geschrieben, die ich nur dringend empfehlen kann: „Egypt: The Distance Between Enthusiasm and Reality“. Darin wird viel Salz in die auch von den deutschen Medien geschürte „Demokratie“-Euphorie gestreut und er nimmt viele Fragen auf, die auch mich in den letzten Wochen bewegt haben.
Schaut man hinter die Kulissen, dann erscheinen die Vorgänge in Kairo eher als ein Staatsstreich, bei dem das de facto seit Jahrzehnten herrschende Militär den Frontmann Hosni Mubarak abgesetzt hat.

Friedman weißt ferner zu recht darauf hin, daß eine echte Revolution anders aussieht (man denke etwa an 1789 in Paris oder 1979 im Iran). Ein paar hunderttausend Menschen, die auf einem Platz in der Hauptstadt demonstrieren, bringen doch keinen Staat zum Zusammenbruch. In welchem Paralleluniversum leben manche Journalisten, wenn sie denken, daß einige Protestierer die Regierung stürzen könnten? Das ist in Deutschland nicht anders: Warum sollte etwa Stuttgart 21 nicht gebaut werden, nur weil es Demonstrationen dagegen gibt?
Außerdem ist es zweifelhaft, von der Meinungsäußerung dieser Demonstranten auf die Meinung des gesamten ägyptischen Volkes zu schließen. Dieses umfaßt immerhin rund 80 Millionen Menschen – und wer hat die befragt, um festzustellen, daß die Mehrheit gegen Mubarak war? Mithin verbietet sich die Rede von einem „Sieg des Volkes“.

Geradezu lächerlich war weiters die Darstellung von Mohammed El Baradei. Nachdem die Proteste in Kairo begonnen hatten, wurde von den meisten Korrespondenten – wohl sachlich zutreffend – berichtet, daß sein Ansehen im Volk nicht besonders groß sei. Unmittelbar nach seiner Rückkehr hat man ihn jedoch als großen „Oppositionsführer“ dargestellt. Ich hatte hingegen den Eindruck, als habe El Baradei versucht, auf eine bereits laufende Entwicklung aufzuspringen und sich wichtig zu tun. Er wirkte nicht wie ein Antreiber, sondern eher wie ein Getriebener. Ein Steuermann agiert anders (vgl. Lenin).
Auch weiß ich nicht recht, was ich von den regelmäßig im Fernsehen gezeigten Plakaten mit englischen Aufschriften halten soll, die von Demonstranten in die Kameras gehalten wurden. Warum müssen Ägypter mit ihrem Präsidenten in englischer Sprache kommunizieren? Insoweit kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, als ob dort ein gehöriges Maß Manipulation oder, freundlicher formuliert, Theaterspiel mit Zielrichtung auf das Ausland betrieben wurde.

Ebenso zweifelhaft sind Theorien von einer „Facebookrevolution“. Revolutionen werden durch sichtbare Macht entschieden, nicht durch das Versenden von E-Mails. Letztere sind ein Hilfsmittel, aber nicht mehr. Um die Nutzung dieses Hilfsmittels zu erschweren und die Lage im Land unter Kontrolle zu bringen, hatte die ägyptische Regierung für einige Tage den Zugang zum Internet drastisch erschwert.
Erstaunlich fand ich insoweit die Empörung deutscher Journalisten über diesen Vorgang. Haben die keine Bücher über die Oktoberrevolution 1917 gelesen? In meiner Kindheit habe ich selbige verschlungen und weiß seither, daß man vor jeder echten Revolution die Telegraphenämter und Bahnhöfe besetzen muß, um die Kommunikationswege zu kontrollieren. Und da der ägyptische Staat keineswegs geschwächt war, hat er dies ebenfalls getan, um zu verhindern, daß diese Machtmittel seinen Gegnern in die Hände fallen. Aber was würde man von einem Staat in einer derart angespannten Situation auch anderes erwarten?

Zum jetzigen Zeitpunkt muß also auch für Ägypten festgehalten werden, daß eine „demokratische Revolution“ nicht zu erkennen ist. Revolution bedeutet, daß eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse stattgefunden hat. Dies ist in Kairo nicht der Fall. Das vorher indirekt herrschende Militär hat nunmehr direkt die Macht übernommen und die Verfassung außer Kraft gesetzt. Einschneidende Veränderungen gab es nur bei einigen wenigen Figuranten; namentlich Mubarak wurde abgesetzt. An diesen Vorgängen ist bisher auch noch nichts demokratisches. Was sich daraus entwickelt, wird die Zukunft zeigen, doch derzeit gibt es keinen Grund für die von den Medien vermittelte Euphorie. Zudem sollte nicht vergessen werden, daß eine Demokratie im innern (was immer dies im konkreten Fall bedeuten mag), noch lange keine Garantie für eine Außenpolitik ist, die den Vorstellungen der „westlichen Staaten“ entspricht.


Foto: RIA Nowosti.

Sonntag, 13. Februar 2011

Raketen über See

Vorab: Ich interessiere mich nicht besonders für militärisches Großgerät wie Panzer, Schiffe oder Flugzeuge. Doch das heute anzuzeigende Buch geht weit über rein technische Fragen hinaus: "Raketen über See - Die taktische Seezielrakete P-15 (Styx) im Kalten und heißen Krieg" von Holger Neidel und Egbert Lemcke ist im Jahre 2008 erschienen. Wie schon mit dem vom selben Verlag herausgebrachten Buch von Frank Preiß werden dem Leser, welcher der russischen Sprache nicht oder nur bedingt mächtig ist, erstmals in seriöser und kompetenter Weise Informationen über das Militär der heutigen Rußländischen Föderation sowie der früheren Sowjetunion präsentiert. Hier geht es zuvörderst um die in den 1950er Jahren entwickelte Seezielrakete P-15 (NATO: Styx) und ihre diversen Abarten und Nachfolgemodelle, wobei die behandelte Zeitspanne von den 1950er Jahren bis 2007 reicht. Schiffsgestützte Flugkörper, die erstmals von der UdSSR gebaut und eingesetzt wurden, waren eine kleine Revolution des Marinewesens.

Dabei werden nicht nur die technischen Entwicklungen detailliert nachvollzogen, die Autoren stellen sie auch in den notwendigen sicherheitspolitischen Kontext: Welchen Sinn ergeben see- und landgestützte Seezielraketen? Sie ermöglichen auch einem vergleichsweise schwachen Staat die kostengünstige Abwehr überlegener Marinekräfte des potentiellen Gegners. Die beiden Autoren vertiefen diese und ähnliche Fragen mehrfach, wenn sie nicht nur Fallbeispiele aus der Sowjetunion selbst, sondern auch aus den Staaten analysieren, die von der SU oder China mit diesen Waffensystemen beliefert worden sind (z.B. DDR, Indien). Neben der Vorstellung der verschiedenen Raketen werden auch ihre Trägerplattformen, insbesondere die damals neuartigen Raketenschnellboote, vorgestellt und ihre Entwicklung nachvollzogen.

Der Band ist durchgängig mit instruktiven Tabellen, Fotos und Zeichnungen versehen. Das alles macht dieses Werk zu einer Fundgrube sowohl für Marineinteressierte als auch für jene, die die Wechselwirkung zwischen Strategie und Technik studieren wollen. Überdies wird man nach der Lektüre besser dazu fähig sein, manches aktuelle militärische Problem zu verstehen. Freilich muß man den beiden Autoren nicht bei jeder Bewertung oder Schlußfolgerung folgen, doch tut dies dem Wert ihres Werkes keinen Abbruch.



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Foto: RIA Nowosti.

Donnerstag, 10. Februar 2011

10.02.2011: Bild des Tages

Heute vor 174 Jahren, am 10. Februar 1837, verstarb der Dichter Alexander Puschkin in seiner Petersburger Wohnung an der Moika an den Folgen eines Duells. Puschkin, der noch heute als Nationaldichter und Begründer der modernen russischen Sprache gilt, hatte mit einem aus Frankreich stammenden Offizier um die Ehre seiner wunderschönen Frau gekämpft. Und er hatte die negativen Folgen eines Duells schon Jahre zuvor in einem seiner Dramen beschrieben: "Eugen Onegin".



Jahrzehnte später hat der Maler Ilja Repin dieses gewissermaßen doppelte Drama in obigem Bild verarbeitet. (Puschkin selbst war übrigens alles andere als duellbegeistert, doch wenn es um eine bildhübsche Frau geht, helfen oft die besten Vorsätze nicht weiter. ;-))

Sonntag, 6. Februar 2011

Ein zwiespältiger Eindruck


Die seit über zwei Jahren in der Rußländischen Föderation laufende umfangreiche Militärreform hatte im deutschsprachigen Raum bisher nur ein geringes publizistisches Echo gefunden, das sich auf einige Artikel in Zeitungen und Fachzeitschriften beschränkte. Doch der Elbe-Dnjepr-Verlag aus Klitzschen bei Leipzig bietet Abhilfe an. Vor kurzem erschienen dort drei Hefte über die Streitkräfte der RF nach der Streitkräftereform, verfaßt von Dieter Stammer. Im ersten Band werden die Luftstreitkräfte, Luftverteidigung, Luftlandetruppen, strategischen Raketentruppen sowie die kosmischen Truppen behandelt. Im zweiten Heft geht es um die Marine inklusive der Landeinheiten. Und im dritten werden die Landstreitkräfte, die Inneren Truppen des Innenministeriums sowie die Spezialkräfte der Militäraufklärung behandelt.

So weit, so gut. Der Autor hat es unternommen, sämtliche Militärverbände in Rußland zu katalogisieren. Das ist natürlich sehr interessant – wenn die Informationen denn sämtlich stimmen würden. Leider bleiben bei mir erhebliche Zweifel. So tauchen in seiner Liste Truppenkörper auf, die es in dieser Form laut russischen Quellen nicht mehr gibt (z.B. bei der Marineinfanterie im Heft 2). Oder es werden zweifelhafte Unterstellungsverhältnisse angegeben. Am witzigsten finde ich seine Darstellung der 46. Operativen Brigade der Inneren Truppen, die in Tschetschenien stationiert ist. Laut Stammer verfügt sie über 11 (!) Bataillone, doch sollen in diesen Einheiten lediglich 2.000 Mann Dienst tun (Heft 3/4, S. 40 f.). Das paßt nicht, weshalb man die Zusammenstellungen mit einem gehörigen Stück Skepsis lesen sollte.

Dieser zwiespältige Eindruck setzt sich bei den Bildern und Illustrationen fort. Erfreulich ist, daß die Hefte nicht als monotone Zeichenkolonnen daherkommen, sondern illustriert sind. Wenn dann aber, wie im Heft 3/4 auf Seite 57 oben ein Foto der Sowjetzeit zugeordnet wird (Truppenverlegung nach Afghanistan), obwohl die darauf abgebildeten Flugzeuge eine erst nach 1991 eingeführte Kennzeichnung der RF tragen, dann grenzt das schon fast an Geschichtsfälschung.
Hier hat – wie im gesamten Layout der Hefte – eine ordentliche Lektorierung seitens des Verlages gefehlt. Die Hefte sind bedauerlicherweise mit vielen kleinen Fehlern angefüllt, die (zumindest bei mir) immer zu einem permanenten Mißtrauen gegenüber dem Autor führen.

Einer der Gründe für die inhaltlichen Fehler dürfte darin liegen, daß Stammer seine Quellen nicht nennt. Es findet sich lediglich der kurze Hinweis, daß alle Informationen aus der russischen Presse stammen. Daran zweifle ich nicht, doch dem kritischen Leser ist es damit nicht möglich, Stammers Angaben direkt zu überprüfen. Mithin wird die Lektüre zur Glaubenssache.

Leider kommt die inhaltliche Auseinandersetzung mit den vielen verschiedenen Aspekten der Militärreform zu kurz (was hat sich geändert?). Gänzlich abwegig ist schließlich Stammers Feststellung, daß „Rußland auf einem guten Weg“ sei, „die Traditionen der Sowjetarmee fortzusetzen“ (Heft 1, 4. Umschlag-S.). Damit werden die erheblichen Strukturveränderungen der letzten zwei Jahre – insbesondere die Abkehr von einer großen, auf die Massenmobilmachung ausgerichteten Armee – negiert.

Von den drei hier behandelten Heften bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Positiv ist zweifelsohne der Versuch, das gesamte Militär der RF kompakt darzustellen (wo liegt welche Einheit). Dabei konnte auch ich viele neue Erkenntnisse gewinnen. Doch die vorhandenen Fehler und Mängel schaffen es, dem Käufer der Bände die Lektüre zu verleiden. Sie sind der Glaubwürdigkeit des Autors auf jeden Fall abträglich, zumal man die Herkunft der von ihm verarbeiteten Informationen nicht nachvollziehen kann.
Vor einer unkritischen Lektüre muß dringend gewarnt werden. Man sollte die von Stammer dargebotenen Informationen nach Möglichkeit immer anhand von russischen Quellen prüfen. Deshalb eignen sich die Hefte leider nur bedingt für solche Zeitgenossen, die der russischen Sprache nicht mächtig sind, aber trotzdem etwas über die Streitkräfte der RF erfahren sollen. Insofern existiert nach wie vor eine große Leerstelle.


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Donnerstag, 3. Februar 2011

Die Metamorphosen des Michail Chodorkowskij


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Seit Mitte Dezember letzten Jahres, als das Urteil im zweiten Strafprozeß gegen den ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowskij erwartet wurde, überbieten sich die deutschen Medien in ihren Lobpreisungen des ehemaligen Angeklagten und nunmehrigen Verurteilten. Er wird als unschuldiges Opfer finsterer Intrigen und politischer Justiz betrachtet, obwohl sich kaum einer der Kommentatoren der Mühe unterzogen hat, die Urteilsbegründung zu lesen. Absonderlicher sind jedoch die Versuche, Chodorkowskij zu einem politischen Oppositionellen, gar einem „Dissidenten“ oder „politischen Reformer“ zu stilisieren. Für letzteres sind sich nicht einmal die deutschen Grünen zu schade. Das hierzulande vorherrschende, extrem einseitige und deshalb falsche Bild des früheren Oligarchen soll nachfolgend korrigiert werden – insbesondere durch die Präsentation von Fakten aus der Vita des Mannes, welche seine Lobredner regelmäßig unterschlagen.

Am Beginn seiner Karriere war Michail Ch. ein hoffnungsvoller und linientreuer Jungkommunist. Er machte in der Jugendorganisation Komsomol Karriere und stieg bis zum hauptamtlichen Funktionär auf. In dieser Eigenschaft hatte er Zugriff auf beachtliche finanzielle Ressourcen, denn in Gorbatschows Reformpolitik spielten Ende der 1980er Jahre Versuche zur Etablierung von Marktstrukturen eine wichtige Rolle. Und der Komsomol sollte bei dieser Entwicklung den Vorreiter spielen. Als Komsomol und Sowjetunion sich auflösten, betrachtete Chodorkowskij das seiner Verwaltung anvertraute Vermögen als herrenlos und vereinnahmte es. Dies war das Startkapital für seine weiteren „unternehmerischen“ Aktivitäten.

In der Folge handelte er mit Computern und anderen Dingen und stieg später ins Bankgeschäft ein. Seine Menatep-Bank erreichte rasch eine gewisse Größe. 1998 brach dann eine Finanzkrise über Rußland herein. Er nutzte die günstige Gelegenheit, um die Bank kurzzeitig zu schließen; nach der Wiedereröffnung sahen sich hunderttausende Anleger um ihr Geld geprellt. (Insofern ist der Vergleich mit dem amerikanischen Betrüger Bernard Madoff durchaus passend.) Wieder einmal hatte Chodorkowskij mit der Instinktsicherheit eines Trüffelschweins erkannt, wie man eine allgemeine Krisensituation ausnutzen kann, um seinen persönlichen Profit zu steigern. Der Menatep-Skandal ist natürlich niemals juristisch aufgearbeitet worden, dafür hat Michails politische Protektion durch Jelzin gesorgt.

Danach wandte er sich verstärkt einer besonders lukrativen Branche zu: dem Ölgeschäft. Der Ölkonzern Jukos wuchs zum zweitgrößten der RF heran. Damit wuchsen auch Chodorkowskijs politische Ambitionen. Dabei spielte Jukos aus Sicht der Regierung eine zweifache Rolle: Im Jahr 2003 wollte Michail Ch. seine Anteile an Jukos – und damit die physische Kontrolle über die dem Konzern zugeordneten Erdölvorräte – an Geschäftspartner aus den USA verkaufen. Dies dürfte schon manches Stirnrunzeln hervorgerufen haben, sieht man es in Rußland doch sehr ungern, wenn Ausländer strategisch wichtige Ressourcen unter ihre alleinige Kontrolle bringen.

Noch alarmierender war jedoch die Nachricht, was Chodorkowskij mit dem Erlös des Verkaufs machen wollte. Bereits in den Jahren zuvor hatte er Politiker und Parteien, die ihm genehm waren, finanziert. Nunmehr wollte er selbst in die Politik einsteigen, indem er wirtschaftliche Macht in politische Macht transformierte. Er war sogar so unvorsichtig, dies öffentlich kundzutun. Auf einem Empfang sagte er, es koste ihn 10 Millionen Dollar, einen Abgeordneten in der Staatsduma zu kaufen. Daher sei es nur eine Frage der Mathematik, wieviel er aufwenden müsse, bevor er – Chodorkowskij – die Mehrheit im Parlament kontrolliere. Kurz danach wurde er verhaftet und seine jahrelange Steuerhinterziehung fiel ihm auf die Füße.

Erschwerend hinzu kam seine konsequente Weigerung, sich an die geänderten Verhältnisse nach Jelzins Abtreten anzupassen. Anstatt, wie etwa Roman Abramowitsch, ein öffentliches Amt zu übernehmen und Abbitte für den massiven Diebstahl fremden Geldes zu tun, verfolgte Chodorkowskij unbeirrt seine eigene politische Agenda. Insofern waren seine Festnahme und Entmachtung eine Machtprobe – wer hat das Sagen in Rußland, der Staat oder ein einzelner Wirtschaftsführer, der glaubt, nach Belieben schalten und walten zu können?
Betrachtet man diese Biographie, dann erscheint Michail Chodorkowskij mitnichten als der bedauernswerte Vorzeigeunternehmer und Saubermann, als den ihn manche darstellen. Unterschlagung, verbrecherischer Konkurs, Steuerhinterziehung, Stimmenkauf – das ist auch kein gutes Zeugnis für einen angeblichen politischen „Reformer“ oder gar „Hoffnungsträger“. Im Gegenteil.

Nicht nur Chodorkowskijs Biographie steckt voller plötzlicher Veränderungen. Zunächst präsentierte er sich als Sohn kleiner Leute, der es als „Entrepreneur“ zu einem gewissen Wohlstand gebracht hat. Diese Strategie konnte auf lange Sicht jedoch nicht erfolgreich sein, weil er – typisch für die Oligarchen der ersten Stunde – immer nur Werte hin- und hergeschoben, aber nie etwas produziert hat. Echte Wertschöpfung passierte in seinen Unternehmen kaum.
Danach versuchte Chodorkowskij, sich als Opfer einer antisemitischen Verschwörung des Kremls darzustellen. Dieser Vorwurf war jedoch so absurd, daß er im Ausland nahezu keine Resonanz fand. Erfolgreicher war er mit seiner Selbstbeschreibung als „sauberer Unternehmer“, der in seinen Betrieben die „westliche Buchhaltung“ eingeführt hätte. Das stimmt zwar nicht – siehe Menatep –, stieß jedoch im Ausland auf größere Resonanz.

Der neueste Trick seiner PR-Berater besteht offenbar darin, ihn als „politischen Dissidenten“ zu zeichnen, der gegen eine finstere Diktatur kämpfe. Ferner soll er angeblich der Hoffnungsträger des russischen Volkes sein, das unter Putins blutiger Knute stöhnt. Das ist zwar genauso absurd wie die Antisemitismusthese, trifft aber im Ausland anscheinend einen Nerv. Dabei ist die Mehrheit der Russen der Überzeugung, daß sich Chodorkowskij genau dort befindet, wo er hingehört: im Gefängnis. Und selbst die wenigen, die ihn unterstützen, tun dies aus eigennützigen Motiven und nicht etwa, weil sie von seiner Unschuld überzeugt wären. Vor vier Jahren sagte mir eine Moskauer Studentin, die zu diesem Personenkreis zählt: „Chodorkowskij ist genau so ein Schwein wie die anderen Oligarchen. Aber er hat uns unterstützt und deshalb müssen wir jetzt für ihn kämpfen.“

Nun könnte man einwenden, die dunklen Seiten aus Chodorkowskijs Leben seien bekannt, doch es sei an der Zeit, einen Schlußstrich unter die „wilden 90er Jahre“ zu ziehen und ihn freizulassen. Schließlich hätten es viele so getrieben wie er und außerdem habe er einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Kapitalismus geleistet.
Letzteres kann man nicht ganz von der Hand weisen. Der Ökonom und Soziologe Werner Sombart zählt in einer seiner Studien auch die Freibeuter zu den „Unternehmernaturen“, die in der Neuzeit die Herausbildung des Kapitalismus befördert haben (er denkt an Leute wie Francis Drake). Dennoch ist die Marktwirtschaft in Westeuropa nicht auf diesem Stand stehengeblieben. Im Gegenteil: Piraten wurden später massiv bekämpft und hingerichtet, stellten sie doch eine erhebliche Gefahr für den Seehandel auf den Weltmeeren dar. Mithin kann man in der RF ebenfalls nicht dabei stehenbleiben. Dort müssen gesetzlose „Unternehmer“ ebenso bekämpft werden, damit sich Wirtschaft und Politik in halbwegs zivilisierten Bahnen bewegen können.

Der Forderung nach sofortiger Freilassung Chodorkowskijs ist überdies entgegenzuhalten, daß es bekanntlich keine Gleichheit im Unrecht gibt. Und seit wann dürfen die Straftäter selbst darüber entscheiden, wann sie zu begnadigen sind?
Eine baldige Begnadigung wäre wohl möglich, wenn Michail Ch. endlich seine zahllosen Verfehlungen bereuen würde (immerhin gibt es auch Mordvorwürfe gegen ihn). Doch darauf wartet die Öffentlichkeit seit Jahren vergebens. Im Gegenteil, er stilisiert sich zu einem zu Unrecht Verfolgten. Doch ohne Reue keine Gnade. Dabei befindet er sich in einer Zwickmühle, aus der er selbst nur schwer herauskommen dürfte: Bleibt er bei seiner bisherigen Verteidigungsstrategie, wird er auch die zweite Haftstrafe voll verbüßen müssen. Bekennt er sich hingegen schuldig, um früher entlassen zu werden, bricht das über Jahre von mühsam von einem Dutzend Anwälten aufgebaute Opfer-Image zusammen. Die Menschen im Ausland (auf die seine PR vor allem zielt) würden sich fragen, was sie diesem Mann noch glauben sollen.

Chodorkowskijs jüngste Verlautbarungen deuten jedenfalls an, daß er vorerst weiter den Märtyrer spielen will. Und seine namhaften Unterstützer im Ausland brauchen ihn in dieser Rolle. Für die wäre es doch ein Desaster, wenn er plötzlich zugäbe, daß die gegen ihn erhobenen Vorwürfe weitgehend zutreffen.


Bibliographie und weiterführende Links:

Khodorkovsky - the making of a myth

Putting the Bout into Khodorkovsky

The Real Reason Why Putin Arrested Yukos Oligarch Mikhail Khodorkovsky

Komsomol Capitalism

Recht gegen einen Mafioso

Michail Chodorkovsky

"Gelesen hab' ich's nicht, doch dagegen bin ich schon"

Oligarchs by Day, Nascent Democrats by Night

Will the Real Russian Dissident Please Stand Up

A Response To Vadim Nikitin’s Arguments For The “Liberation” Of Khodorkovsky And The Kuriles

Why is Misha Khodorkovsky a Dissident?

ZOMG! Mikhail Khodorkovsky is going on hunger strike!


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