Die Ereignisse, die während der vergangenen Wochen Tunesien, Ägypten und nun auch andere arabische Länder erschüttert haben, ließen uns hier in Deutschland zunächst überrascht und ratlos zurück. Mittlerweile scheint sich jedoch eine Interpretation als „demokratische Revolutionen“ durchgesetzt zu haben. Ich bin demgegenüber sehr skeptisch, denn insofern scheint – gerade auch unter Journalisten – sehr viel Wunschdenken am Werk zu sein, das eigene Ideen in die tatsächlich ablaufenden Ereignisse hineinprojiziert.
Zunächst einmal die Grundfrage: Was versteht man unter „Demokratie“? Dieser regelmäßig strapazierte Begriff ist so schillernd und vieldeutig, daß die, die ihn gebrauchen, seine Bedeutung sauber definieren sollten. Schließlich wurde auch der frühere Präsident Mubarak mehrfach gewählt. Überdies bestand in beiden Staaten die Hauptforderung in höheren Löhnen, vielleicht sollte deshalb besser von einer sozialen Revolution gesprochen werden.
Zweitens: Tunesien. Dort hat Präsident
Ben Ali sein Amt aufgegeben und ist ins Exil gegangen. Dafür wurden einige „Oppositionspolitiker“ (was auch immer dieses Wort unter den konkreten Bedingungen Tunesiens bedeuten mag) mit an der Regierung beteiligt. Viel mehr ist in Tunis bisher nicht geschehen. Man kann also nur von einem partiellen Elitenwechsel sprechen, doch keineswegs von einer „Demokratisierung“. Letztere könnte irgendwann kommen, doch ob und wann ist zum jetzigen Zeitpunkt fraglich.
Des weiteren hat der teilweise Zusammenbruch des tunesischen Sicherheitsapparates bereits jetzt negative Auswirkungen auf Europa. Gemeint ist der Ansturm illegaler Einwanderer auf Italien. Diese Ausweitung der tunesischen „Revolution“ zeigt ganz deutlich, daß hehre Ideale in der internationalen Politik nicht weiterhelfen, denn hinsichtlich der Migrantenfrage hat sich die alte Regierung unter Ben Ali offenbar positiver verhalten.
Zweitens: Ägypten. Hierzu hat George Friedman eine äußerst lesenswerte Analyse geschrieben, die ich nur dringend empfehlen kann:
„Egypt: The Distance Between Enthusiasm and Reality“. Darin wird viel Salz in die auch von den deutschen Medien geschürte „Demokratie“-Euphorie gestreut und er nimmt viele Fragen auf, die auch mich in den letzten Wochen bewegt haben.
Schaut man hinter die Kulissen, dann erscheinen die Vorgänge in Kairo eher als ein Staatsstreich, bei dem das de facto seit Jahrzehnten herrschende Militär den Frontmann
Hosni Mubarak abgesetzt hat.
Friedman weißt ferner zu recht darauf hin, daß eine echte Revolution anders aussieht (man denke etwa an
1789 in Paris oder
1979 im Iran). Ein paar hunderttausend Menschen, die auf einem Platz in der Hauptstadt demonstrieren, bringen doch keinen Staat zum Zusammenbruch. In welchem Paralleluniversum leben manche Journalisten, wenn sie denken, daß einige Protestierer die Regierung stürzen könnten? Das ist in Deutschland nicht anders: Warum sollte etwa Stuttgart 21 nicht gebaut werden, nur weil es Demonstrationen dagegen gibt?
Außerdem ist es zweifelhaft, von der Meinungsäußerung dieser Demonstranten auf die Meinung des gesamten ägyptischen Volkes zu schließen. Dieses umfaßt immerhin rund 80 Millionen Menschen – und wer hat die befragt, um festzustellen, daß die Mehrheit gegen Mubarak war? Mithin verbietet sich die Rede von einem „Sieg des Volkes“.
Geradezu lächerlich war weiters die Darstellung von
Mohammed El Baradei. Nachdem die Proteste in Kairo begonnen hatten, wurde von den meisten Korrespondenten – wohl sachlich zutreffend – berichtet, daß sein Ansehen im Volk nicht besonders groß sei. Unmittelbar nach seiner Rückkehr hat man ihn jedoch als großen „Oppositionsführer“ dargestellt. Ich hatte hingegen den Eindruck, als habe El Baradei versucht, auf eine bereits laufende Entwicklung aufzuspringen und sich wichtig zu tun. Er wirkte nicht wie ein Antreiber, sondern eher wie ein Getriebener. Ein Steuermann agiert anders (vgl.
Lenin).
Auch weiß ich nicht recht, was ich von den regelmäßig im Fernsehen gezeigten Plakaten mit englischen Aufschriften halten soll, die von Demonstranten in die Kameras gehalten wurden. Warum müssen Ägypter mit ihrem Präsidenten in englischer Sprache kommunizieren? Insoweit kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, als ob dort ein gehöriges Maß Manipulation oder, freundlicher formuliert, Theaterspiel mit Zielrichtung auf das Ausland betrieben wurde.
Ebenso zweifelhaft sind Theorien von einer „Facebookrevolution“. Revolutionen werden durch sichtbare Macht entschieden, nicht durch das Versenden von E-Mails. Letztere sind ein Hilfsmittel, aber nicht mehr. Um die Nutzung dieses Hilfsmittels zu erschweren und die Lage im Land unter Kontrolle zu bringen, hatte die ägyptische Regierung für einige Tage den Zugang zum Internet drastisch erschwert.
Erstaunlich fand ich insoweit die Empörung deutscher Journalisten über diesen Vorgang. Haben die keine Bücher über die
Oktoberrevolution 1917 gelesen? In meiner Kindheit habe ich selbige verschlungen und weiß seither, daß man vor jeder echten Revolution die Telegraphenämter und Bahnhöfe besetzen muß, um die Kommunikationswege zu kontrollieren. Und da der ägyptische Staat keineswegs geschwächt war, hat er dies ebenfalls getan, um zu verhindern, daß diese Machtmittel seinen Gegnern in die Hände fallen. Aber was würde man von einem Staat in einer derart angespannten Situation auch anderes erwarten?
Zum jetzigen Zeitpunkt muß also auch für Ägypten festgehalten werden, daß eine „demokratische Revolution“ nicht zu erkennen ist. Revolution bedeutet, daß eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse stattgefunden hat. Dies ist in Kairo nicht der Fall. Das vorher indirekt herrschende Militär hat nunmehr direkt die Macht übernommen und die Verfassung außer Kraft gesetzt. Einschneidende Veränderungen gab es nur bei einigen wenigen Figuranten; namentlich Mubarak wurde abgesetzt. An diesen Vorgängen ist bisher auch noch nichts demokratisches. Was sich daraus entwickelt, wird die Zukunft zeigen, doch derzeit gibt es keinen Grund für die von den Medien vermittelte Euphorie. Zudem sollte nicht vergessen werden, daß eine Demokratie im innern (was immer dies im konkreten Fall bedeuten mag), noch lange keine Garantie für eine Außenpolitik ist, die den Vorstellungen der „westlichen Staaten“ entspricht.
Foto: RIA Nowosti.