Donnerstag, 24. Mai 2012

"Bomben auf Baku"

Ein nur wenig bekanntes Kapitel aus der Geschichte des Zweiten Weltkrieges stellt der Historiker Günther Deschner in seiner Schrift „Bomben auf Baku“ vor. Es geht um nichts weniger als die 1939/40 entworfenen britisch-französischen Pläne für massive Angriffe auf die südliche Sowjetunion, namentlich die Kaukasusregion. Damit sollten zwei Ziele verfolgt werden. Zum einen ging es um ein Abschneiden der deutschen Rohstoffzufuhren (vor allem Erdöl und Erdölprodukte) aus der SU, zum anderen um die Fortsetzung jenes schon nach 1917 begonnenen „Kreuzzugs gegen den Bolschewismus“. Deschner stellt die alliierten Planungen völlig zu recht in den Kontext der Intervention der Westmächte während des russischen Bürgerkrieges (1918-1919) und zeigt so langfristige Kontinuitäten des politischen Denkens auf, die teilweise bis heute fortwirken.

Konkret waren zunächst Luftangriffe gegen Industriezentren im Kaukasus geplant. Diese sollten durch Geheimdienstoperationen ergänzt werden, mithilfe derer bewaffnete Aufstände unter der dort lebenden Bevölkerung ausgelöst werden sollten. Schließlich waren auch Vorstöße zu Lande geplant, für die allein französischerseits eine Streitmacht von 150.000 Mann – vollmotorisiert! – zur Verfügung stand. Ins Werk wurde davon jedoch nichts gesetzt, doch fehlten die modernen Kampfflugzeuge und mechanisierten Verbände im Frühjahr 1940 während des Kampfes um Frankreich. Im Ergebnis waren die Planungen also nichts als eine große Diversion – allerdings nicht vom Gegner, sondern von den alliierten Generalstäben durchgeführt.

Deschner zeigt auf, daß das Kriegsbündnis der Jahre 1941 bis 1945 keineswegs natürlich war und auch andere Konstellationen denkbar gewesen wären. Des weiteren wird deutlich, daß die europäischen Großmächte keineswegs alle so friedliebend waren, wie sie sich selbst in der Rückschau gerne sehen. Und – das macht den aktuellen Wert des Buches aus – es werden jene westlichen Denkmuster hinsichtlich Rußlands aufgezeigt, die auch heute noch sehr oft anzutreffen sind, trotz alle Beteuerungen des Gegenteils.
Das führt zu einem weiteren, rein historischen Punkt: Da die Staatsführung der UdSSR von Deutschland über die Angriffspläne informiert worden war, baute sich bei ihr ein Mißtrauen gegenüber den Westmächten auf, das bis zum Kriegsende nicht abgebaut werden konnte. Ferner zeigt sich, daß um das Jahr 1940 herum von einem festgefügten völkerrechtlichen Verbot des Angriffskrieges keine Rede sein konnte.

Das Thema ist freilich nicht ganz neu und wurde bereits 1973 auch vom Spiegel aufgegriffen.


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Mittwoch, 16. Mai 2012

Nataschas Tanz und das Waidwerk


In seiner voluminösen, aber überaus lesenswerten Kulturgeschichte Rußlands, die 2002 unter dem Titel „Nataschas Tanz“ erschienen ist, hat sich der britische Historiker Orlando Figes auch mit der Bedeutung der Jagd im Zarenreich zur Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Vieles von dem, was er dort beschreibt, trifft m.E. in Rußland auch heute noch zu: Jagen (und Angeln) als zeitweiliger Abschied vom „normalen“ Leben und Hinwendung zur „ursprünglichen“ Natur und Lebensweise. (Hier hatte ich darüber schon etwas geschrieben.) Dies scheint mir doch ein signifikanter Unterschied zum deutschen Jagdverständnis zu sein, das gerne betont, wie wichtig die Jagd in unserer Kulturlandschaft ist.

Doch lassen wir Figes zu Wort kommen:
"[...]

Von allen ländlichen Vergnügungen kam die Jagd einer nationalen Institution am nächsten, denn sie vereinte den Adligen und den Leibeigenen als Sportskameraden und Landsleute. Das frühe 19. Jahrhundert war das goldene Zeitalter der Jagd, was wiederum damit zusammenhing, daß der Adel nach 1812 das „gute Leben auf dem Landsitz“ wiederentdeckte. Es gab Adlige, die ihre Laufbahn im Verwaltungsdienst aufgaben und sich aufs Land zurückzogen, um sich ganz der Jagd zu widmen. Der „Onkel“ der Rostows in „Krieg und Frieden“ ist ein typisches Beispiel:
„Warum treten Sie nicht in den Staatsdienst ein, Onkel?“
„Ich habe einmal gedient, habe es aber dann aufgegeben. Ich tauge nicht dazu, klare sache, und damit hopp! Habe mich in all den Kram niemals hineinfinden können. Das ist eure Sache, bei mir langt’s dazu nicht mit dem Verstand. Siehst du, mit der Jagd, da ist es etwas anderes […]“
Es gab zwei Arten der Jagd in Rußland: Die klassische Jagd mit Hundemeuten, die etwas sehr vornehmes war, und die einfache Art zu jagen, wie sie Turgenjew in seinen „Aufzeichnungen eines Jägers“ (1852) verewigt hat und bei der ein Mann, nur von seinem Hund und einem Leibeigenen begleitet, zu Fuß loszog.



Die klassische Jagd wurde im Stile eines militärischen Feldzugs durchgeführt, dauerte manchmal mehrere Wochen und umfaßte Hunderte von Reitern, riesige Hundemeuten und ein enormes Gefolge von Jagdknechten, die auf den Landsitzen der Adligen kampierten. Lew Ismailow, der Rjasaner Adelsmarschall, nahm 3000 Jäger und 2000 Jagdhunde mit auf seine „Feldzüge“. Baron Mengden hielt sich für die Jagd eine Einheit besonders guter Jagdknechte mit eigener scharlachroter Livree und speziellen Araberpferden. Wenn sie mit dem Baron an der Spitze aufbrachen, nahmen sie mehrere hundert mit Heu und Eicheln beladene Karren, eine Krankenstation auf Rädern für verwundete Hunde, eine fahrbare Küche und so viele Bedienstete mit, daß das Haus des Barons völlig verwaist war und seine Frau und Töchter nur mit einem Mundschenk und einem Pagen zurückblieben. Diese Art der Jagd war nur möglich, weil der Adel über ein riesiges Heer von Leibeigenen und nahezu sämtliche Ländereien verfügte – Bedingungen, die bis zur Befreiung der Leibeigenen im Jahr 1861 gültig blieben. Wie bei der englischen Jagd handelte es sich ernsthafte, steife Angelegenheit, bei der gesellschaftliche Hierarchien strikt eingehalten wurden und den Jagdknechten, wenn sie nicht ohnehin mit den Hunden liefen, eindeutig eine untergeordnete Rolle zukam.

Im Gegensatz dazu war Turgenjews Art der Jagd beinahe egalitär, und zwar auf eine ausgesprochen russische Weise. Wenn der Adlige mit seinem leibeigenen Gefährten auf die Jagd ging, ließ er die zivilisierte Welt seines Palastes hinter sich und betrat die Welt der Bauern. Dieser Sport schweißte Junker und Knecht zusammen. Sie kleideten sich ähnlich, teilten Essen und Trinken, wenn sie unterwegs anhielten, schliefen Seite an Seite in Bauernhütten und Scheunen, unterhielten sich, wie Turgenjew es in den „Aufzeichnungen“ schildert, in kameradschaftlichem Geist über das Leben und schlossen dadurch oft eine enge und dauerhafte Freundschaft. Das Ganze war mehr als nur die übliche sportliche Männerkumpanei. Was den Gutsbesitzer betraf, so war die Jagd für ihn eine ländliche Odyssee, eine Begegnung mit unentdecktem Bauernland, und es war beinahe nebensächlich, wie viele Vögel oder Tiere er dabei schoß. In der letzten, sehr poetischen Episode der „Aufzeichnungen“ faßt der Erzähler alle Freuden der Jagd zusammen und erwähnt den Sport selber dabei kaum. In dieser wundervollen Schilderung findet die innige Liebe des Jägers zum ländlichen Rußland und seiner wechselnden Schönheit im Laufe der verschiedenen Jahreszeiten ihren Ausdruck:
„Aber nun ein Morgen im Sommer, im Juli! Wer außer dem Jäger hat erfahren, was für eine Freude es ist, im Morgenrot durch die Büsche zu streifen? Als grünes Band legt sich die Spur Ihrer Füße auf das tauige, weiß schimmernde Gras. Sie biegen einen nassen Strauch auseinander – und schon umgibt Sie der aufgespeicherte warme Duft der Nacht; die Luft ist ganz durchtränkt mit der frischen Bitterkeit des Wermuts, mit dem Honig des Buchweizens und des Wiesenklees; in der Ferne steht wie eine Mauer der Eichenwald und glänzt und rötet sich in der Sonne; es ist noch kühl, aber man spürt schon die nahende Hitze. Man wird schwindlig im Kopf und ganz benommen vom Überfluß der Wohlgerüche. Der Buschwald nimmt kein Ende … Höchstens in der Ferne leuchtet hier und da das Gelb des reifenden Roggens und in schmalen Streifen das Rot des Buchweizens. Da knarrt ein Wagen; ein Bauer kommt im Schritt gefahren; er stellt sein Pferd beizeiten in den Schatten … Sie wechseln einen Gruß mit ihm und gehen weiter; hinter Ihnen erklingt das helle Klirren der Sense. Höher und höher steigt die Sonne. Rasch trocknet das Gras. Nun ist es schon sehr heiß geworden. Es vergeht eine Stunde, eine zweite … Der Himmel färbt sich am Rande dunkel; in stechender Glut brütet die unbewegte Luft.“
[...]" (Figes: Nataschas Tanz, Berlin 2011, S. 132 ff.)


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Donnerstag, 3. Mai 2012

Leider kein Sieg vor dem BGH

BGH 15 Pano

Gestern ist der bereits am 22. März ergangene Beschluß des Bundesgerichtshofes im Revisionsverfahren gegen den Vater des Massenmörders von Winnenden veröffentlicht worden. Damit wurde das Urteil des erstinstanzlichen Landgerichts Stuttgart, was den Vater zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt hat, aufgehoben. Nunmehr muß vor dem LG Stuttgart eine Neuverhandlung stattfinden.
Der BGH-Beschluß hat in der Presse einen starken Widerhall gefunden. In Zeiten, in denen deutsche Politiker und Journalisten zuhauf und ungefragt ausländischen Staaten Lektionen in Sachen Rechtsstaatlichkeit erteilen, offenbart die vernichtende Kitik am BGH vor allem das gestörte, archaisch anmutende Rechtsverständnis der Kritiker. Exemplarisch mag hierfür ein Artikel in der Winnender Zeitung stehen. Zunächst wird die Bedeutung des Beschlusses relativiert und der BGH verunglimpft:
"Dass die Entscheidungspraxis der Revisionsgerichte „weitgehend unberechenbar“ sei, gilt vielen Juristen als Gemeinplatz."
Dann dürfen die "Opfer" - also nicht das Opfer des Fehlurteils, sondern die Hinterbliebenen der Opfer des Mörders - ihr Leid klagen:
"So bleiben die Opfer-Angehörigen weiter hineingedreht ins Räderwerk der Justiz, hineingepresst in die Paragrafenmühle, hängen fest in der Warteschleife – auf unabsehbare Zeit. Mag sein, dass all das „formaljuristisch“ seine Richtigkeit hat, sagt Jürgen Marx, der seine Tochter Selina am 11. März 2009 verloren hat - „emotional ist das für einen Laien absolut nicht nachzuvollziehen. Uns hat das Ganze getroffen wie ein Hammer“. [...] „Uns hat‘s echt die Füße weggezogen.“ Sicher, schon klar, alles geht seinen geordneten Gang, die Gerichte fällen ihre Entscheidungen, alles schön rechtsstaatlich – aber „die Opfer sind für die total uninteressant. Das interessiert die einen Scheiß, was wir denken und fühlen. Jetzt stehen wir da wie vor zwei Jahren. Nach zwei Jahren Aufbauarbeit ist wieder ein Fundament weggebrochen“."
Sonach hatte der Prozeß gegen den Vater vor allem psychologische Funktion. "Trauerarbeit" - wer wollte da dagegen sein? und dann tritt der unsensible Bundgerichtshof auf wie ein Elefant im Porzellanladen und beharrt auf der Einhaltung eines Minimums rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze. Frechheit - wo doch das "gesunde Volksempfinden" schon lange entschieden hat!
Diese Einlassungen zeigen einmal mehr, daß es in dem Strafprozeß eigentlich gar nicht um den Vater und dessen mögliches Fehlverhalten ging. Der Mann war und ist lediglich ein Sündenbock, der an Stelle seines toten Sohnes die Rolle des Haßobjektes spielen muß. Nur in dieser Logik wird verständlich, weshalb juristische Erwägungen einen so geringen Stellenwert in der Berichterstattung hatten.

Schließlich wird der Haß ausgeweitet. Nicht nur der Vater, auch sein Rechtsanwalt, der die teilweise erfolgreiche Revision durchgesetzt hat, wird von der Presse beschimpft:
"So gut Gorka sein Paragrafengeschäft versteht – die irritierend zynische „Spiel“- und „Glück“-Floskel passt zu der auffälligen Achtlosigkeit, mit der der Anwalt im ersten Amokprozess über die Befindlichkeiten, Verletzlichkeiten und Gefühle von Opfer-Eltern hinwegging."
Die Journaille meint also, daß die Aufgabe eines Strafverteidigers nicht in der Wahrnehmung der Interessen seines Mandanten, sondern in der besonderen Beachtung von Befindlichkeiten der Nebenkläger liege. Hier irrt Peter Schwarz von der Winnender Zeitung. In unserem Rechtssystem ist genau das nicht die Aufgabe eines Verteidigers, dafür haben die Nebenkläger ihre eigenen Anwälte.
Wiederum wird deutlich, daß der erste Prozeß in Stuttgart nichts anderes als ein abgekartetes Spiel war, ein - wie früher schon geschrieben - Schauprozeß, in dem der Angeklagte nur die Rolle des reuigen Sünders spielen sollte, der jedes vorgefertigte Geständnis unterschreibt. Daß es anders kam und RA Hubert Gorka erfreulicherweise auf einer effektiven Verteidigung bestand, beschwört nun den geballten Zorn der Amoklauf-Winnenden-Lobby und der ihr nahestehenden Medien herauf. Den von einem Festredner stammenden Satz, daß Verteidigung Kampf ist, nimmt man Gorka besonders übel.

Dabei ist der Beschluß des BGH zwar ein Erfolg, aber kein vollständiger Sieg der Revision. Dies wird von den - wie immer - oberflächlich recherchierenden Journalisten übersehen. Zwar hat der BGH das Urteil aufgrund eines schwerwiegenden Fehlers des LG hinsichtlich der Aussage einer Schlüsselzeugin aufgehoben. Doch die weiteren Rügen der Revision gegen die zahlreichen Mängel des ersten Verfahrens wurden vom BGH verworfen. Im weiteren Text gibt der Gerichtshof zudem Hinweise an das Landgericht, wie im zweiten Prozeß eine Verurteilung erreicht werden kann. Insbesondere die Randnummern 34 bis 36 sind m.E. problematisch, weil damit eine lange Kausalitätskette für Fahrlässigkeitshandlungen konstruiert wird, die über mehrere unabhängige Personen reicht.

Mithin war auch der BGH nur bedingt fähig, weiteres Licht die offenen (Rechts-) Fragen im Fall Winnenden zu bringen. Nur als kleiner Trost, vor allem für den Betroffenen, bleibt die Neuauflage des Verfahrens vor dem LG Stuttgart. Ob es dort diesmal fairer und rechtsstaatlicher zugehen wird als im ersten Prozeß mit seinen befangenheitsverdächtigen Schöffen und anderen Mißhelligkeiten?

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