Freitag, 23. Dezember 2011

Die neue rußländische Opposition


Die mit rund 50.000 Teilnehmern relativ große Kundgebung, die am 10. Dezember in Moskau stattfand (vgl. hier, hier, hier und hier), markierte einen wichtigen Punkt in der Entwicklung des politischen Systems der Rußländischen Föderation. Damit meine ich nicht die hohe Zahl der Demonstranten, auf die sich manche Medien kapriziert haben. Nein, es geht um die innere Zusammensetzung der Opposition. Erstmals ist eine Scheidung aufgetreten. Auf dem Theaterplatz, wo die Demo zunächst stattfinden sollte, hatten sich lediglich die Nationalbolschewisten und andere Anhänger Eduard Limonows versammelt. Diese zur Gewalt neigende Truppe fühlte sich von den anderen Protestierern verraten. Demzufolge giftete Limonow später, wenn man seinem Rat gefolgt wäre und eine richtige Revolution gemacht hätte, hätte man schon die Macht übernehmen können. Doch nach drei unfriedlichen Revolutionen zwischen 1905 und 1917 hat sich die Mehrzahl der Russen offenkundig dem Weg der Gewalt verweigert.

Die meisten Protestgruppen hatten ihre Anhänger auf den Bolotnaja-Platz gebeten. Und sie hatten - auch das für diverse Oppositionsgruppen ein Novum! - endlich den Forderungen des Versammlungsrechts genüge getan und die Kundgebung vorher angemeldet. Und siehe da, die Durchführung war in Absprache mit der Stadtverwaltung problemlos möglich - ohne Eingreifen der Polizei, auch wenn einzelne Störer, die z.B. mitten in der Menge Rauchbomben zündeten, die Sicherheitskräfte provozieren wollten. Die Extremisten sind anscheinend ins Abseits geraten, während sich eine eher bürgerliche, aus der wachsenden Mittelschicht kommende Protestbewegung artikuliert. Denen geht es großteils nicht um einen Umsturz des Systems oder gar eine Revolution, wie sie Limonow und anderen vorschwebt, sondern um Änderungen im System: "Es handelt sich um Bürgerinnen und Bürger, die Forderungen an die aktuellen Machthaber stellen, aber nicht dafür plädieren, diese auszuwechseln". Der Verdacht von Wahlfälschungen ist - unabhängig von seinem tatsächlichen Gehalt - so schwerwiegend, daß sie eine Untersuchung der Vorwürfe und Neuauszählungen betroffener Wahllokale gefordert haben. (Forderungen, denen die Wahl- und Justizbehörden mittlerweile z.T. nachgekommen sind.)

Die russischen Fernsehsender haben übrigens seit dem Wahltag über die Proteste berichtet (siehe z.B. hier). Anderslautende Behauptungen deutscher Medien entsprechen offenkundig nicht der Wahrheit.

Wahlbetrug?

Daß auch die maßgeblichen Personen der Opposition nicht an Wahlfälschungen in Größenordnungen von 10 oder mehr Prozent glauben, zeigen Einlassungen des Jabloko-Politiker Grigorij Jawlinskij. Selbst er sieht seine Partei bei lediglich 5 bis 7 % der Stimmen - und damit außerhalb der Staatsduma (mit Ausnahme eines einzigen Mandats, welches ab 5 % als "Trostpreis" vergeben wird).
Eine schöne Zusammenfassung, inklusive mathematischer Modelle zum (Nicht-)Beweis von Fälschungen, ist bei Sublime Oblivion zu finden. Einiga Tage zuvor hat derselbe Autor die Ereignisse für Al-Jazeera kommentiert.

Entpolitisierung der Proteste

Wenn manche deutschen Beobachter meinen, die Kundgebungen gegen Wahlfälschungen würden sich zu einer allgemeinen Protestbewegung auswachsen, die sich direkt gegen Wladimir Putin richte, dann dürften sie sich getäuscht haben. Im Gegenteil, die Demonstranten treten zwar für freie Wahlen ein, wollen sich jedoch nicht mit politischen Parteien und Gruppen gemein machen. (KPRF und LDPR halten sich von der Bewegung mittlerweile fern.) So sollen morgen, am 24. Dezember, in Moskau keine Politiker auftreten. Dies entspricht dem Wunsch vieler potentieller Teilnehmer, die ein Konzert den Reden von Kasparow & Co. vorziehen. Dies bestätigt auch einen Artikel der liberalen Tageszeitung NG, worin man sich eingesteht, daß es weder zur Person Putins noch zu seiner Politik in der Vergangenheit eine realistische Alternative gab und auch heute noch nicht gibt.

Das programmatische und personelle Angebot der sog. "Demokraten" und "Liberalen" ist, zurückhaltend formuliert, sehr unterentwickelt. Mehr darüber kann man in diesem interessanten Interview, das auch weitere Einblicke in die Parteienlandschaft gibt, mit dem ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin lesen. Die extrem niedrigen Umfragewerte für Parteien und Politiker aus dem liberalen Spektrum i.w.S. stützen diesen Befund.

Nebenbei: Es fällt auf, wie wenig gerade die Oppositionsvertreter juristisch argumentieren. Selbst "Gerechtigkeit" ist für sie ein moralischer und kein Rechtsbegriff. Und auf konkrete Rechtsprobleme wird sogar von ausgewiesenen "Bürgerrechtsaktivisten" mit abstrakten Phrasen statt mit gestochen scharfer juristischer Argumentation reagiert. Diese Leute müssen noch eine Weile reifen, bevor man reale Macht in ihre Hände legen kann, sonst steuern sie das Staatsschiff in den Abgrund, aus dem es die beiden Petersburger Juristen herausgeholt haben.

Auch an ihrer politischen Symbolik müssen die Demonstranten noch arbeiten. Wer soll ihnen denn abnehmen, daß sie für "Freiheit" und "Demokratie" eintreten, wenn sie sich - siehe Foto - unter der roten Sowjetflagge mit Hammer und Sichel oder unter der alten schwarz-gold-weißen Flagge des Zarenreiches versammeln, dabei jedoch die weiß-blau-rote Flagge der Föderation ignorieren?

Nemzow, der Spinner

In den vergangenen Wochen ist viel interessantes in Rußland passiert, über das man hier schreiben könnte. Vor allem wenn es um Innenansichten jenseits des Schwarz-weiß-Bildes vieler ausländischer Medien geht. Zum Beispiel über die Arbeitsweise der neuen Duma. Oder generell über die Wahrnehmungsprobleme vieler Journalisten, die selbst für kritische Moskauer Journalisten peinlich sind und überdies andere Proteste verdecken, die nicht ins Schema der ausländischen Chefredakteure passen. Doch leider ist freie Zeit, gerade kurz vor Weihnachten, eine knappe Ressource. Deshalb soll ein kurzer Blick auf den westlichen Kult um Alexander Njemzow genügen.

Gestern wurde Njemzow von der BBC interviewt. Er sprach in fließendem Englisch und behauptete, in Rußland wäre die Unterstützung für Medwedew und Putin "gleich Null". Die BBC stellte ihn ihren Zuschauern als "Oppositionsführer" vor.

Njemzow ist einer der Lieblinge ausländischer Medien und deshalb ist es wichtig, sich seiner Verlautbarungen und seiner Person anzunehmen. Die These, die Unterstützung für Präsident und Premier wäre "gleich Null", kann durch einen einfachen Blick in aktuelle Meinungsumfragen wiederlegt werden. Laut dem für seine Putin-Kritik bekannten Lewada-Zentrum waren im Dezember 36 % bereit, für Putin bei der Präsidentenwahl zu stimmen. Auf Platz 2 folgte weit abgeschlagen der LDPR-Vorsitzende Shirinokwskij mit 7 %. Damit ist Njemzows Behauptung als offenkundig unwahr erwiesen, weshalb sich jede weitere Diskussion über ihren Inhalt erübrigt. Fragt sich nur, ob er bewußt gelogen hat oder ob er unter einer psychischen Erkrankung leidet.

Kommen wir zu seiner Person. Zum hiesigen Kult um sog. Oppositionsführer hatte ich hier schon das wichtigste gesagt. Njemzow kann schon deshalb kein Führer sein, weil es ihm an einer signifikanten Gefolgschaft fehlt. Seine Zustimmungsrate in der Bevölkerung pendelt um 1 % und wie selbst seine "Freunde" aus der Opposition von ihm denken, kann man auf diesem Video sehen. Es zeigt Njemzow am 18. Dezember auf einer Demonstration in St. Petersburg, wo er von den Teilnehmern ausgebuht und lautstark zum Abhauen aufgefordert wird.

Doch Njemzow wird nicht nur von seinen Gesinnungsgenossen gehaßt, auch er selbst verachtet sie zutiefst. Kürzlich veröffentlichte das Internetportal Life News Ausschnitte aus (natürlich illegal) abgehörten Telefonaten Njemzows. Darin äußert sich der selbsternannte Freiheitskämpfer verächtlich über seine Kameraden, neben denen er am 10. Dezember demonstriert hat, und belegt sie zum Teil sogar mit Begriffen aus der Fäkalsprache. Die Partei Jabloko beschimpft er als Politsekte. Diese Enthüllung dürfte Njemzows ohnehin geringes Renommee noch weiter sinken lassen, bis er irgendwann im Ausland mehr Unterstützer hat als in der RF.

Ausblick

Bleibt die Frage, wie es in Rußland jetzt weitergehen wird. Ich wage eine Prognose:

Eine Revolution findet nicht statt. Die Russen wissen, daß die Figuren, die sich jetzt so lautstark produzieren, keine ernsthaft erwägenswerte Alternative zu Putin sind. Sie wollen Korrekturen am Wahlergebis vom 4. Dezember und werden diese auch bekommen. Allerdings auf dem vom Gesetz dafür vorgesehenen Weg - den die Partei Gerechtes Rußland auch schon beschreitet - und nicht auf den Druck der Straße hin. Die jüngsten Ereignisse zeigen auch, wie sehr es den unzufriedenen Bürgern an Identifikationsfiguren fehlt. Typen wie Limonow kommen dafür nicht in Frage und Njemzow, Kasparow u.a., die ideologisch möglich wären, haben ein viel zu schlechtes Standing im Volk. Deshalb dürfte sich die "Schneerevolution" verlaufen.

Geändert hat sich allerdings die Wahrnehmung. Das Volk ist politischer geworden. Bisher war politische Aktivität, ganz gleich in welcher Richtung, die Sache von wenigen engagierten Bürgern. Nunmehr sind die Bürger wieder viel stärker in das politische Geschehen involviert. Fraglich ist allerdings, ob davon etwas beim deutschen Medienkonsumenten ankommt. Denn dafür müßten unsere Journalisten ihre manichäischen Weltbilder aufgeben.

Und noch eine Prognose: Ja, Putin wird im März wieder zum Präsidenten gewählt werden, sofern nicht zwischenzeitlich die Erde bebt oder er stirbt. Doch dies wird seine letzte Amtszeit sein. Er hat dann seine Mission erfüllt. Das Land hat sich erholt und ist stabil, der Wohlstand der Bürger ist deutlich gewachsen, wichtige Reformen sind durchgeführt. Und die Bürger können fleißig Vkontakte und Facebook nutzen, weil sie nicht mehr in langen Schlangen vor leeren Geschäften anstehen und um die Zuteilung von Lebensmitteln kämpfen müssen.

Das hektische Herbeireden und -schreiben einer "Revolution" beeindruckt mich nicht. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Jahre 2006/2007, als sowohl in Rußland als auch hierzulande viele Journalisten, Politologen usw. darüber rätselten, wie Putin es schaffen könnte, nach Ablauf seiner zweiten Amtszeit nicht aus dem Amt scheiden zu müssen. Viele meinten, es würde eine kurzfristige Verfassungsänderung oder gar einen Putsch geben. Doch nichts dergleichen geschah, Wladimir Wladimirowitsch ist einfach aus dem Kreml gegangen. Deshalb begegne ich kurzatmigen Horrorszenarien mit Skepsis.


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