Mittwoch, 24. April 2013

Crosspost: Der Amoklauf von Belgorod

Vollständig lesen auf "Tauroggen"
 

Donnerstag, 24. Januar 2013

In eigener Sache: Lebenszeichen und Neustart an anderem Ort

Während der vergangenen Jahres war ich aus verschiedenen Gründen (Beruf, Gesundheit, Familie - in dieser Reihenfolge) leider gezwungen, meine Freizeitaktivitäten sehr stark einzuschränken und damit auch diesen Blog zu vernachlässigen. Das wird sich demnächst hoffentlich ein wenig bessern. Ferner stellte sich mir, wie schon mehrfach zuvor, die Frage: Quo vadis? Und ich habe mich nach über vier Jahren entschlossen, Backyard Safari in seiner bisherigen Form nicht weiterzuführen.

Es gibt jetzt eine Trennung, welche die ursprünglich - also im Sommer 2008 - angedachten Verhältnisse wiederherstellt. Der Themenkreis Waffen, Waffenrecht, Sportschießen, Messer etc. pp. wird auch in Zukunft hier behandelt. Allerdings in einer wahrscheinlich recht geringen Beitragsfrequenz, denn ich habe daneben noch andere waffenbezogene Internetseiten zu betreuen. Die Beiträge, die sich mit Rußland und Osteuropa beschäftigen und keinen ausschließlichen Waffenbezug haben, werden zukünftig in einem neuen Weblog erscheinen:


Dorthin sind die bisherigen Artikel schon kopiert worden. Gleichwohl werden sie hier im Archiv auch fernerhin verfügbar sein. Tauroggen wird wohl auf absehbare Zeit den Schwerpunkt bilden, denn  spannende Themen existieren zuhauf und in den deutschen Hauptstrommedien finden sich immer weniger zutreffende Informationen.

An dieser Stelle danke ich meinen bisherigen Lesern für Ihre Treue und hoffe, daß sie mir auch in Zukunft gewogen bleiben.

Donnerstag, 24. Mai 2012

"Bomben auf Baku"

Ein nur wenig bekanntes Kapitel aus der Geschichte des Zweiten Weltkrieges stellt der Historiker Günther Deschner in seiner Schrift „Bomben auf Baku“ vor. Es geht um nichts weniger als die 1939/40 entworfenen britisch-französischen Pläne für massive Angriffe auf die südliche Sowjetunion, namentlich die Kaukasusregion. Damit sollten zwei Ziele verfolgt werden. Zum einen ging es um ein Abschneiden der deutschen Rohstoffzufuhren (vor allem Erdöl und Erdölprodukte) aus der SU, zum anderen um die Fortsetzung jenes schon nach 1917 begonnenen „Kreuzzugs gegen den Bolschewismus“. Deschner stellt die alliierten Planungen völlig zu recht in den Kontext der Intervention der Westmächte während des russischen Bürgerkrieges (1918-1919) und zeigt so langfristige Kontinuitäten des politischen Denkens auf, die teilweise bis heute fortwirken.

Konkret waren zunächst Luftangriffe gegen Industriezentren im Kaukasus geplant. Diese sollten durch Geheimdienstoperationen ergänzt werden, mithilfe derer bewaffnete Aufstände unter der dort lebenden Bevölkerung ausgelöst werden sollten. Schließlich waren auch Vorstöße zu Lande geplant, für die allein französischerseits eine Streitmacht von 150.000 Mann – vollmotorisiert! – zur Verfügung stand. Ins Werk wurde davon jedoch nichts gesetzt, doch fehlten die modernen Kampfflugzeuge und mechanisierten Verbände im Frühjahr 1940 während des Kampfes um Frankreich. Im Ergebnis waren die Planungen also nichts als eine große Diversion – allerdings nicht vom Gegner, sondern von den alliierten Generalstäben durchgeführt.

Deschner zeigt auf, daß das Kriegsbündnis der Jahre 1941 bis 1945 keineswegs natürlich war und auch andere Konstellationen denkbar gewesen wären. Des weiteren wird deutlich, daß die europäischen Großmächte keineswegs alle so friedliebend waren, wie sie sich selbst in der Rückschau gerne sehen. Und – das macht den aktuellen Wert des Buches aus – es werden jene westlichen Denkmuster hinsichtlich Rußlands aufgezeigt, die auch heute noch sehr oft anzutreffen sind, trotz alle Beteuerungen des Gegenteils.
Das führt zu einem weiteren, rein historischen Punkt: Da die Staatsführung der UdSSR von Deutschland über die Angriffspläne informiert worden war, baute sich bei ihr ein Mißtrauen gegenüber den Westmächten auf, das bis zum Kriegsende nicht abgebaut werden konnte. Ferner zeigt sich, daß um das Jahr 1940 herum von einem festgefügten völkerrechtlichen Verbot des Angriffskrieges keine Rede sein konnte.

Das Thema ist freilich nicht ganz neu und wurde bereits 1973 auch vom Spiegel aufgegriffen.


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Mittwoch, 16. Mai 2012

Nataschas Tanz und das Waidwerk


In seiner voluminösen, aber überaus lesenswerten Kulturgeschichte Rußlands, die 2002 unter dem Titel „Nataschas Tanz“ erschienen ist, hat sich der britische Historiker Orlando Figes auch mit der Bedeutung der Jagd im Zarenreich zur Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Vieles von dem, was er dort beschreibt, trifft m.E. in Rußland auch heute noch zu: Jagen (und Angeln) als zeitweiliger Abschied vom „normalen“ Leben und Hinwendung zur „ursprünglichen“ Natur und Lebensweise. (Hier hatte ich darüber schon etwas geschrieben.) Dies scheint mir doch ein signifikanter Unterschied zum deutschen Jagdverständnis zu sein, das gerne betont, wie wichtig die Jagd in unserer Kulturlandschaft ist.

Doch lassen wir Figes zu Wort kommen:
"[...]

Von allen ländlichen Vergnügungen kam die Jagd einer nationalen Institution am nächsten, denn sie vereinte den Adligen und den Leibeigenen als Sportskameraden und Landsleute. Das frühe 19. Jahrhundert war das goldene Zeitalter der Jagd, was wiederum damit zusammenhing, daß der Adel nach 1812 das „gute Leben auf dem Landsitz“ wiederentdeckte. Es gab Adlige, die ihre Laufbahn im Verwaltungsdienst aufgaben und sich aufs Land zurückzogen, um sich ganz der Jagd zu widmen. Der „Onkel“ der Rostows in „Krieg und Frieden“ ist ein typisches Beispiel:
„Warum treten Sie nicht in den Staatsdienst ein, Onkel?“
„Ich habe einmal gedient, habe es aber dann aufgegeben. Ich tauge nicht dazu, klare sache, und damit hopp! Habe mich in all den Kram niemals hineinfinden können. Das ist eure Sache, bei mir langt’s dazu nicht mit dem Verstand. Siehst du, mit der Jagd, da ist es etwas anderes […]“
Es gab zwei Arten der Jagd in Rußland: Die klassische Jagd mit Hundemeuten, die etwas sehr vornehmes war, und die einfache Art zu jagen, wie sie Turgenjew in seinen „Aufzeichnungen eines Jägers“ (1852) verewigt hat und bei der ein Mann, nur von seinem Hund und einem Leibeigenen begleitet, zu Fuß loszog.



Die klassische Jagd wurde im Stile eines militärischen Feldzugs durchgeführt, dauerte manchmal mehrere Wochen und umfaßte Hunderte von Reitern, riesige Hundemeuten und ein enormes Gefolge von Jagdknechten, die auf den Landsitzen der Adligen kampierten. Lew Ismailow, der Rjasaner Adelsmarschall, nahm 3000 Jäger und 2000 Jagdhunde mit auf seine „Feldzüge“. Baron Mengden hielt sich für die Jagd eine Einheit besonders guter Jagdknechte mit eigener scharlachroter Livree und speziellen Araberpferden. Wenn sie mit dem Baron an der Spitze aufbrachen, nahmen sie mehrere hundert mit Heu und Eicheln beladene Karren, eine Krankenstation auf Rädern für verwundete Hunde, eine fahrbare Küche und so viele Bedienstete mit, daß das Haus des Barons völlig verwaist war und seine Frau und Töchter nur mit einem Mundschenk und einem Pagen zurückblieben. Diese Art der Jagd war nur möglich, weil der Adel über ein riesiges Heer von Leibeigenen und nahezu sämtliche Ländereien verfügte – Bedingungen, die bis zur Befreiung der Leibeigenen im Jahr 1861 gültig blieben. Wie bei der englischen Jagd handelte es sich ernsthafte, steife Angelegenheit, bei der gesellschaftliche Hierarchien strikt eingehalten wurden und den Jagdknechten, wenn sie nicht ohnehin mit den Hunden liefen, eindeutig eine untergeordnete Rolle zukam.

Im Gegensatz dazu war Turgenjews Art der Jagd beinahe egalitär, und zwar auf eine ausgesprochen russische Weise. Wenn der Adlige mit seinem leibeigenen Gefährten auf die Jagd ging, ließ er die zivilisierte Welt seines Palastes hinter sich und betrat die Welt der Bauern. Dieser Sport schweißte Junker und Knecht zusammen. Sie kleideten sich ähnlich, teilten Essen und Trinken, wenn sie unterwegs anhielten, schliefen Seite an Seite in Bauernhütten und Scheunen, unterhielten sich, wie Turgenjew es in den „Aufzeichnungen“ schildert, in kameradschaftlichem Geist über das Leben und schlossen dadurch oft eine enge und dauerhafte Freundschaft. Das Ganze war mehr als nur die übliche sportliche Männerkumpanei. Was den Gutsbesitzer betraf, so war die Jagd für ihn eine ländliche Odyssee, eine Begegnung mit unentdecktem Bauernland, und es war beinahe nebensächlich, wie viele Vögel oder Tiere er dabei schoß. In der letzten, sehr poetischen Episode der „Aufzeichnungen“ faßt der Erzähler alle Freuden der Jagd zusammen und erwähnt den Sport selber dabei kaum. In dieser wundervollen Schilderung findet die innige Liebe des Jägers zum ländlichen Rußland und seiner wechselnden Schönheit im Laufe der verschiedenen Jahreszeiten ihren Ausdruck:
„Aber nun ein Morgen im Sommer, im Juli! Wer außer dem Jäger hat erfahren, was für eine Freude es ist, im Morgenrot durch die Büsche zu streifen? Als grünes Band legt sich die Spur Ihrer Füße auf das tauige, weiß schimmernde Gras. Sie biegen einen nassen Strauch auseinander – und schon umgibt Sie der aufgespeicherte warme Duft der Nacht; die Luft ist ganz durchtränkt mit der frischen Bitterkeit des Wermuts, mit dem Honig des Buchweizens und des Wiesenklees; in der Ferne steht wie eine Mauer der Eichenwald und glänzt und rötet sich in der Sonne; es ist noch kühl, aber man spürt schon die nahende Hitze. Man wird schwindlig im Kopf und ganz benommen vom Überfluß der Wohlgerüche. Der Buschwald nimmt kein Ende … Höchstens in der Ferne leuchtet hier und da das Gelb des reifenden Roggens und in schmalen Streifen das Rot des Buchweizens. Da knarrt ein Wagen; ein Bauer kommt im Schritt gefahren; er stellt sein Pferd beizeiten in den Schatten … Sie wechseln einen Gruß mit ihm und gehen weiter; hinter Ihnen erklingt das helle Klirren der Sense. Höher und höher steigt die Sonne. Rasch trocknet das Gras. Nun ist es schon sehr heiß geworden. Es vergeht eine Stunde, eine zweite … Der Himmel färbt sich am Rande dunkel; in stechender Glut brütet die unbewegte Luft.“
[...]" (Figes: Nataschas Tanz, Berlin 2011, S. 132 ff.)


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Donnerstag, 3. Mai 2012

Leider kein Sieg vor dem BGH

BGH 15 Pano

Gestern ist der bereits am 22. März ergangene Beschluß des Bundesgerichtshofes im Revisionsverfahren gegen den Vater des Massenmörders von Winnenden veröffentlicht worden. Damit wurde das Urteil des erstinstanzlichen Landgerichts Stuttgart, was den Vater zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt hat, aufgehoben. Nunmehr muß vor dem LG Stuttgart eine Neuverhandlung stattfinden.
Der BGH-Beschluß hat in der Presse einen starken Widerhall gefunden. In Zeiten, in denen deutsche Politiker und Journalisten zuhauf und ungefragt ausländischen Staaten Lektionen in Sachen Rechtsstaatlichkeit erteilen, offenbart die vernichtende Kitik am BGH vor allem das gestörte, archaisch anmutende Rechtsverständnis der Kritiker. Exemplarisch mag hierfür ein Artikel in der Winnender Zeitung stehen. Zunächst wird die Bedeutung des Beschlusses relativiert und der BGH verunglimpft:
"Dass die Entscheidungspraxis der Revisionsgerichte „weitgehend unberechenbar“ sei, gilt vielen Juristen als Gemeinplatz."
Dann dürfen die "Opfer" - also nicht das Opfer des Fehlurteils, sondern die Hinterbliebenen der Opfer des Mörders - ihr Leid klagen:
"So bleiben die Opfer-Angehörigen weiter hineingedreht ins Räderwerk der Justiz, hineingepresst in die Paragrafenmühle, hängen fest in der Warteschleife – auf unabsehbare Zeit. Mag sein, dass all das „formaljuristisch“ seine Richtigkeit hat, sagt Jürgen Marx, der seine Tochter Selina am 11. März 2009 verloren hat - „emotional ist das für einen Laien absolut nicht nachzuvollziehen. Uns hat das Ganze getroffen wie ein Hammer“. [...] „Uns hat‘s echt die Füße weggezogen.“ Sicher, schon klar, alles geht seinen geordneten Gang, die Gerichte fällen ihre Entscheidungen, alles schön rechtsstaatlich – aber „die Opfer sind für die total uninteressant. Das interessiert die einen Scheiß, was wir denken und fühlen. Jetzt stehen wir da wie vor zwei Jahren. Nach zwei Jahren Aufbauarbeit ist wieder ein Fundament weggebrochen“."
Sonach hatte der Prozeß gegen den Vater vor allem psychologische Funktion. "Trauerarbeit" - wer wollte da dagegen sein? und dann tritt der unsensible Bundgerichtshof auf wie ein Elefant im Porzellanladen und beharrt auf der Einhaltung eines Minimums rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze. Frechheit - wo doch das "gesunde Volksempfinden" schon lange entschieden hat!
Diese Einlassungen zeigen einmal mehr, daß es in dem Strafprozeß eigentlich gar nicht um den Vater und dessen mögliches Fehlverhalten ging. Der Mann war und ist lediglich ein Sündenbock, der an Stelle seines toten Sohnes die Rolle des Haßobjektes spielen muß. Nur in dieser Logik wird verständlich, weshalb juristische Erwägungen einen so geringen Stellenwert in der Berichterstattung hatten.

Schließlich wird der Haß ausgeweitet. Nicht nur der Vater, auch sein Rechtsanwalt, der die teilweise erfolgreiche Revision durchgesetzt hat, wird von der Presse beschimpft:
"So gut Gorka sein Paragrafengeschäft versteht – die irritierend zynische „Spiel“- und „Glück“-Floskel passt zu der auffälligen Achtlosigkeit, mit der der Anwalt im ersten Amokprozess über die Befindlichkeiten, Verletzlichkeiten und Gefühle von Opfer-Eltern hinwegging."
Die Journaille meint also, daß die Aufgabe eines Strafverteidigers nicht in der Wahrnehmung der Interessen seines Mandanten, sondern in der besonderen Beachtung von Befindlichkeiten der Nebenkläger liege. Hier irrt Peter Schwarz von der Winnender Zeitung. In unserem Rechtssystem ist genau das nicht die Aufgabe eines Verteidigers, dafür haben die Nebenkläger ihre eigenen Anwälte.
Wiederum wird deutlich, daß der erste Prozeß in Stuttgart nichts anderes als ein abgekartetes Spiel war, ein - wie früher schon geschrieben - Schauprozeß, in dem der Angeklagte nur die Rolle des reuigen Sünders spielen sollte, der jedes vorgefertigte Geständnis unterschreibt. Daß es anders kam und RA Hubert Gorka erfreulicherweise auf einer effektiven Verteidigung bestand, beschwört nun den geballten Zorn der Amoklauf-Winnenden-Lobby und der ihr nahestehenden Medien herauf. Den von einem Festredner stammenden Satz, daß Verteidigung Kampf ist, nimmt man Gorka besonders übel.

Dabei ist der Beschluß des BGH zwar ein Erfolg, aber kein vollständiger Sieg der Revision. Dies wird von den - wie immer - oberflächlich recherchierenden Journalisten übersehen. Zwar hat der BGH das Urteil aufgrund eines schwerwiegenden Fehlers des LG hinsichtlich der Aussage einer Schlüsselzeugin aufgehoben. Doch die weiteren Rügen der Revision gegen die zahlreichen Mängel des ersten Verfahrens wurden vom BGH verworfen. Im weiteren Text gibt der Gerichtshof zudem Hinweise an das Landgericht, wie im zweiten Prozeß eine Verurteilung erreicht werden kann. Insbesondere die Randnummern 34 bis 36 sind m.E. problematisch, weil damit eine lange Kausalitätskette für Fahrlässigkeitshandlungen konstruiert wird, die über mehrere unabhängige Personen reicht.

Mithin war auch der BGH nur bedingt fähig, weiteres Licht die offenen (Rechts-) Fragen im Fall Winnenden zu bringen. Nur als kleiner Trost, vor allem für den Betroffenen, bleibt die Neuauflage des Verfahrens vor dem LG Stuttgart. Ob es dort diesmal fairer und rechtsstaatlicher zugehen wird als im ersten Prozeß mit seinen befangenheitsverdächtigen Schöffen und anderen Mißhelligkeiten?

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Dienstag, 24. April 2012

Rußland in der Arktis

Der Arktische Ozean.


Wenn zwei das gleiche tun, ist es noch lange nicht das selbe. Diese alte Einsicht bewahrheitet sich regelmäßig, wenn es um die Berichterstattung deutscher Medien über Rußland geht. Wohl kein deutscher Journalist käme auf die Idee, die Präsenz der U.S. Coast Guard in Alaska anzuzweifeln oder den Einsatz der Royal Canadian Mounted Police in den Nordwest-Territorien und Nunavut zu kritisieren. Neben konkreten technischen Aufgaben erfüllen diese Behörden in den dünnbesiedelten Nordgebieten der USA und Kanadas die allgemeinen Funktiones des Grenzschutzes und der Souveränitätskontrolle. Damit wird - im deutschen Fernsehen unwidersprochen - demonstriert, daß die besagten Territorien zum jeweiligen Staat gehören.

Doch mit Bezug auf die Rußländische Föderation ist alles anders - zumindest wenn man dem preisgekrönten Journalisten Dietmar Schumann glaubt, dessen aus dem Jahr 2005 stammende Reportage "Franz-Josef-Land - Auf verlorenem Posten" kürzlich vom ZDF wieder ausgestrahlt wurde. In diesem Film hat Schumann vorzüglich die Mängel der deutschen Rußlandreportagen dargestellt.

Das ZDF-Team hatte eine Reise auf einem Frachter gebucht, der einige Außenposten auf dem arktischen Franz-Josef-Land versorgt. Darunter waren auch zwei Grenzposten. Irgendeine Laus muß während der Reise über Schumanns Leber gelaufen sein, denn die Grenzschützer kommen im Film gar nicht gut weg. Sie seien das finstere Reich des Geheimdienstes usw. usf. Zuvor hatten sie ihm die Besichtigung eines Grenzpostens verwehrt, offenbar, weil er sich nicht angemeldet hatte. Darauf reagierte der brüskierte Journalist dann mit harschen Worten. Im Interview fragte er den Chef des Grenzpostens, ob seine Arbeit überhaupt sinnvoll sei und gegen welchen Feind die Grenzer Rußland im hohen Norden verteidigen würden. Dieselbe freche Frage hätte Schumann keinem Kanadier oder Amerikaner gestellt. Entsprechend genervt reagierte denn auch der rußländische Grenzoffizier, was Schumanns Wut noch weiter steigerte.

Dem deutschen Zuschauer wird damit ein furchteinflößendes Bild des rußländischen Grenzschutzes vermittelt. Doch dem ist nicht so. Russische Journalisten berichten regelmäßig von diesen Außenposten, allerdings haben sie sich vorher angemeldet und mit der zuständigen Presseabteilung abgestimmt. Wer die Spielregeln nicht einhält, darf sich über unfreundliche Reaktionen seiner Partner nicht wundern. Und in welcher deutschen Polizeidienststelle dürfte ein plötzlich auftauchendes Fernsehteam einfach so filmen? Wohl in keiner.


Der nördliche Seeweg von Europa nach Fernost.


Ein weiterer wichtiger Punkt in jeder deutschen Rußlandreportage sind Menschen, die in die Kamera sagen, wie schlimm die Regierung in Moskau doch sei. Diesen Part spielt in Schumanns Film die Besatzung einer Polarstation. Man habe die Finanzierung heruntergefahren und deshalb gehe im hohen Norden alles den Bach runter. Das ist teilweise zutreffend, jedoch bleibt im Film der Kontext, in dem die besagte Station steht, völlig unbeleuchtet. Das soll an dieser Stelle nachgeholt werden.

Beginnen wir mit einem Blick in die Geschichte. Die Erforschung der Arktis wurde in Rußland seit Beginn des 20. Jahrhunderts vorangetrieben. Zar und Sowjetregierung rüsteten Expeditionen aus, um das weithin unbekannte Gebiet zu erforschen und zu kartographieren. In den 1920er Jahren entstanden die ersten Polarstationen, welche ganzjährig besetzt waren und vor allem Wetterdaten sammelten. In den 1920er Jahren entstand der Wunsch, diese Region ökonomisch und verkehrstechnisch besser und systematischer zu erschließen. Damit Begann der Ausbau des Nördlichen Seeweges, der in Deutschland Nordostpassage genannt wird. Zahlreiche neue Stationen wurden an der Küste und auf Inseln errichtet, Eisbrecher und Häfen gebaut, Expeditionen wie etwa die mit der "Tscheljuskin" anno 1933/34 durchgeführt usw.

Zur Koordination diente die Hauptverwaltung Nördlicher Seeweg, deren erster Chef der bekannte Polarforscher Otto Schmidt war. Die Hauptverwaltung hatte umfassende wissenschaftliche, wirtschaftliche und verkehrstechnische Aufgaben in der sowjetischen Arktis wahrzunehmen. Neben der Forschung und der Wetter- und Eisbeobachtung waren dies die Erkundung von Rohstofflagerstätten, das Betreiben von Schiffahrtswegen, Koordination von Jagd und Fischerei etc. Dazu verfügte die Behörde nicht nur über die immer zahlreicheren Polarstationen, sondern auch über viele Schiffe, darunter fast alle sowjetischen Eisbrecher, und - mit Stand 1939 - über 150 Flugzeuge. Letztere wurden in einer eigenen Fluggesellschaft namens Awiaarktika zusammengefaßt, die später Teil von Aeroflot war. Ab 1953 wurde die Hauptverwaltung allerdings erheblich reduziert, viele Bereiche gingen an andere Behörden. Seit 1964 ist sie Teil der allgemeinen Schiffahrtsverwaltung. (Die Schiffahrt auf dem nördlichen Seeweg beschreibt dieser Dokumentarfilm aus dem Jahre 1984.)

Im Zuge der Umstrukturierung gingen die Polarstationen gingen an den Hydrometeorologischen Dienst. Zeitgleich wurde dem Wetterdienst auch das Arktis-Antarktis-Forschungsinstitut unterstellt. Obwohl beide Strukturen nunmehr zum Wetterdienst gehörten (und bis heute gehören), haben sie doch unterschiedliche Aufgaben. Die vom Forschungsinstitut verantworteten Polarstationen und -expeditionen dienen der wissenschaftlichen Grundlagenforschung in der Arktis. Insoweit ist besonders an die bisher 39 Driftstationen über dem Nordpol zu denken. Die erste unter dem Namen Nordpol-1 fand 1937 statt und ist weltberühmt geworden (2009 wurde sie in der Dokumentation "Rote Arktis" behandelt). Seit dem 30.09.2011 ist die Station Nordpol-39 mit 16 Mann Besatzung auf einer Eisscholle auf dem Arktischen Ozean unterwegs. Die von dort alle sechs Stunden übermittelten Daten können hier eingesehen werden.


Feste Forschungsstationen im sowjetischen bzw. rußländischen Polargebiet.


Die übrigen, "normalen" Stationen im gesamten sowjetischen Polargebiet hatten vornehmlich Aufgaben der Wetter- und Eisbeobachtung zu erfüllen. Damit halfen sie dabei, die Schiffahrt auf dem nördlichen Seeweg abzusichern. In Hochzeiten unterhielt der Wetterdienst der UdSSR sage und schreibe 105 Beobachtungsstationen in dieser Region (siehe Karte 3). Nach 1991 kam dann der Niedergang. Der nördliche Seeweg wurde immer weniger in Anspruch genommen, weil der Transportbedarf zurückging. Es gab Jahre, in denen befuhr ihn kein einziges Schiff auf voller Länge. Zugleich steckte die RF der Jelzin-Ära in einer Dauerkrise. Angestellte in der Arktis waren zu Sowjetzeiten mit überdurchschnittlich hohen Gehältern angelockt worden, doch nun bezahlte der Staat sie nur noch mit großer Verzögerung oder manchmal auch gar nicht. Mithin suchten sich viele Mitarbeiter andere Arbeitsstellen und verließen die Arktis. Das dichte Stationsnetz wurde ausgedünnt und ist auf etwa ein Drittel seiner früheren Größe geschrumpft. Sie gehören heute zu den nördlichen, jakutischen und tschuchotkischen Abteilungen des Hydrometeorologischen Dienstes.

Doch seit etwa 2005 zeichnet sich Besserung ab, was vor allem auf die wirtschaftliche Gesundung Rußlands zurückzuführen ist. Nach dreizehnjähriger Pause wurden wieder Driftexpeditionen ausgesandt und auch die übrigen Polarstationen werden wieder hochgefahren. Mehrere Schiffskonvois (auch deutscher Reedereien) absolvierten den Nördlichen Seeweg in voller Länge und konnten so die Reisezeit zwischen Ostasien und Europa reduzieren. Durch das teilweise Schmlezen des Polareises wird auch die Förderung von Rohstoffen in der rußländischen Polarregion vereinfacht. Mithin ist eine Zunahme der ökonomischen Nutzung der Arktis im allgemeinen und des Verkehrs auf dem Nördlichen Seeweg im besonderen zu erwarten. Ob man im Zeitalter der Wetter- und Eisbeobachtung durch Flugzeuge und Satelliten allerdings noch ein (teures) Netz von über hundert Polarstationen wie vor 40 Jahren braucht, ist zweifelhaft.

Áuf diese Entwicklung hat die RF im Jahr 2008 durch die Verabschiedung einer Arktisstrategie reagiert. (Analoge Aktivitäten werden übrigens auch in Kanada entfaltet.) Leider findet dies in den deutschen Medien kaum eine zutreffende Darstellung. Anstatt völkerrechtliche und andere Hintergünde aufzuzeigen, begnügt man sich oft mit ironisch-ängstlichen Kommentaren über den "russischen Griff nach der Arktis". Eine erfreuliche Ausnahme ist das Buch "Die Arktis - Ressourcen, Interessen und Probleme", 2010 von der Hanns-Seidel-Stiftung herausgegeben.

In jedem Fall wird man in den nächsten Jahren noch einiges über die Polaraktivitäten Rußlands hören. Wie schon im 20. Jahrhundert, so wird man dort auch im 21. in der Polarschiffahrt (Eisbrecher, eisgängige Frachter und Tanker) und Polarfliegerei führend sein. Dasselbe trifft auf die wissenschaftliche Erforschung zu. Und an den Küsten des Nordpolarmeers werden auch weiterhin Grenzposten exisitieren, so wie die RCMP den Norden Kanadas und die norwegische Polizei Spitzbergen bewacht, auch wenn ein schlecht informierter deutscher Journalist dies für überflüssig hält.


Die "Wolga", ein Patrouillen-Eisbrecher der Küstenwache
des Grenzschutzes, vor Kamtschatka.


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Grafiken: Wikipedia, vivovoco.rsl.ru/VV/JOURNAL/NATURE.

Samstag, 14. April 2012

Nachsteuern bei der Militärreform


Über den Fortgang der Militärreform im Personalbereich informierte jüngst RIA Nowosti in einem Artikel:
"[...]

Russische Offiziere können demnächst freiwillig ihre Dienstzeit um fünf Jahre verlängern.
Das Verteidigungsministerium hat offenbar den Umfang seines Personalkahlschlags eingesehen und einen Gesetzentwurf zur Anhebung des Pensionsalters vorbereitet. Die Streitkräfte brauchen dringend erfahrene Führungskräfte, die wegen der Reformen in den vergangenen Jahren massenweise aus der Armee ausgeschieden waren.

Neue Altersgrenzen

Die Altersgrenzen für russische Offiziere sind unmittelbar mit ihrem Rang verbunden. Laut dem neuen Gesetzentwurf könnten bzw. dürften Oberstleutnante und Fregattenkapitäne höchstens 50 Jahre alt sein, Oberste und Kapitäne zur See 55 Jahre, Generalmajore, Konteradmiräle, Generalleutnante und Vizeadmiräle 60 Jahre, Marschälle, Armeegeneräle, Flotteadmiräle, Generaloberste und Admiräle 65 Jahre, erläuterte der Pressedienst des Verteidigungsministeriums.

Im Vergleich zur aktuellen Richtlinie, die im Sinne des Gesetzes Nr. 53 vom Jahr 1998 gilt, soll die Altersgrenze um fünf Jahre erhöht werden. Dabei wurde hervorgehoben, dass sie mit den aktuellen Altersgrenzen für Beamte und Mitarbeiter des Innenministeriums übereinstimmen würden.
Die Idee des neuen Gesetzentwurfs bestehe darin, „dass Militärs mit Kriegs- und Verwaltungserfahrungen weiter ihren Dienst leisten“, heißt es in der Pressemitteilung des Verteidigungsministeriums. Diese These muss aber ausführlich dargestellt werden.

Umfassende „Optimierung“

Auf den ersten Blick ist die neue Initiative der Militärbehörde nicht nur alt, sondern auch inkonsequent, wenn man die Reformen der letzten Jahre bedenkt.

Die radikale Kürzung des Offiziersbestands im Sinne der Reform von Serdjukow (Verteidigungsminister) und Makarow (Generalstabschef) von 365 000 im Herbst 2009 auf 150 000 war durch mehrere Umstände bedingt. Unter anderem musste das Missverhältnis zwischen der enorm großen Zahl von hochrangigen Offizieren einerseits und dem Mangel an Unteroffizieren andererseits aufgehoben werden.

In diesem Sinne war das Gesetz Nr. 53 hilfreich, das jetzt aber novelliert werden soll. Derzeit werden die Verträge der Oberoffiziere aufgelöst, sobald diese eine gewisse Altersgrenze erreichen, es sei denn der Oberste Befehlshaber, sprich Präsident, höchstpersönlich verfügt über ihre Verlängerung.

Von dieser Reform waren viele hochrangige Kritiker, darunter im Generalstab, betroffen. Es kam sogar vor, dass nicht nur einzelne Personen oder Abteilungen gehen mussten, sondern ganze Verwaltungen im Zentralapparat, die ihren jungen und unerfahrenen Nachfolgern einen Berg von Arbeit hinterließen.

Auch viele Militärforscher wurden wegreformiert, weshalb immer weniger Experten an der Beschlussfassung des Verteidigungsministeriums beteiligt sind.
Besonders schwere Folgen hatte die Reform für die Stabsstrukturen, wo es zu viele Oberoffiziere gab.

Ein Mangel der Reform bestand darin, dass die Kürzungspläne unpräzise waren und einzelne Abteilungen und Dienste einfach wegrationalisiert wurden, obwohl sie weiter gebraucht wurden. Auf diese Weise mussten nicht nur hochrangige und nutzlose „Statthalter“, sondern auch viele Profis den Platz räumen, die dennoch sehr gefragt waren.

Manchmal kehren sie zurück

Der Generalstab scheint diese Misere jedoch begriffen zu haben. Zunächst wurden die Offiziersstellen im Februar des Vorjahres um 70 000 erhöht. Damals wurde das mit dem Bedarf der ins Leben gerufenen Weltraumabwehrtruppen begründet.

Wozu aber die neue Waffengattung eine so große Zahl von Offizieren brauchte, so dass die Zahl der Offiziere in der gesamten Armee plötzlich um die Hälfte anstieg, wurde nicht erklärt. Dass wichtige Experten, die die Armee noch nicht verlassen haben, gehalten werden mussten, lag auf der Hand.

Im Februar berichtete die Zeitung "Kommersant" unter Berufung auf Quellen, dass das Verteidigungsministerium etwa 4000 entlassene Oberoffiziere (Generäle und Admiräle) als Berater wieder anheuern könnte. Das könnte aber bedeuten, dass jeder in Dienst stehende General bzw. Admiral bis zu fünf Berater um sich schart.

Trotz dieser widersprüchlichen Zahlenspiele kann festgestellt werden, dass der Trend dahin geht, erfahrene Kommandeure, Stabsbeamte und Militärforscher in die Armee zurückzuholen.
Dazu passt auch die jüngste Initiative zur Erhöhung der Altersgrenze für Offiziere.

Fragwürdig ist nur, ob das Verteidigungsministerium und der Generalstab zu einem Dialog mit den wenigen Kritikern der Militärreform bereit sind, die von der umfassenden „Optimierung“ nicht berührt worden sind. Und inwieweit die Erfahrungen der entlassenen Generäle gefragt sein könnten, die jetzt als Experten zum Umbau der Armee zurückgeholt werden.

[...]"


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Fotos: www.multimedia.mil.ru.