Dienstag, 18. November 2008

18.11.2008: Text des Tages

Ein literarischer Text, der mich schon in meiner Jugend begeistert hat, ist Gottfried Kellers Novelle "Das Fähnlein der sieben Aufrechten". Das Faszinierende daran ist weniger der politische Radikalismus der älteren Protagonisten, als vielmehr die von Keller beschriebene Welt: die Schweiz nicht nur als ein freiheitsliebendes, sondern vor allem ein wehrhaftes Land. Wehrhaft sowohl kollektiv als auch individuell: der einzelne Bürger hat als Soldat selbst für seine dienstlich geführte Waffe zu sorgen und darf diese - selbstverständlich - auch außer Dienst zuhause aufbewahren und etwa zum Sportschießen verwenden. (So verwundert es nicht, daß gerade ein eidgenössisches Schützenfest in der Novelle eine besondere Rolle spielt.)

Keller zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der es selbstverständlich ist, daß ein Ehrenmann über eigene Waffen verfügt und sie auch benutzen kann. Eine Gesellschaft, in der Waffen ein natürlicher Alltagsgegenstand sind, aber kein Feindbild - ohne daß daraus ständig Mord und Totschlag resultieren würden. Man kann sich kaum einen größeren Gegensatz zu unserer heutigen Zeit vorstellen, wo sich manche Politiker nicht entblöden, privaten Waffenbesitz als "Anachronismus" zu titulieren, den man als wohlmeinender Gutmensch beseitigen müsse. :-(
Mir ist kein anderes literarisches Zeugnis bekannt, in dem sich der Milizgedanke als Ausdruck gesunden Bürgersinns derart manifestiert hat wie im "Fähnlein". Fast könnte man beim Lesen meinen, im Hintergrund die Argumente amerikanischer "Pro Gun"- und "Militia"-Aktivisten zu hören ...

Natürlich berichtet Keller nicht von großen Heldentaten und er beschreibt eine dezidiert kleinbürgerliche Lebenswelt. In selbiger waren aber offenkundig Einsichten vorhanden, die uns abhanden gekommen sind oder die vielleicht in Deutschland nie besonders tief verwurzelt waren:

"Der Schneidermeister Hediger in Zürich war in dem Alter, wo der fleißige Handwerksmann schon anfängt, sich nach Tisch ein Stündchen Ruhe zu gönnen. So saß er denn an einem schönen Märztage nicht in seiner leiblichen Werkstatt, sondern in seiner geistigen, einem kleinen Sonderstübchen, welches er sich seit Jahren zugeteilt hatte. Er freute sich, dasselbe ungeheizt wieder behaupten zu können; denn weder seine alten Handwerkssitten, noch seine Einkünfte erlaubten ihm, während des Winters sich ein besonderes Zimmer erwärmen zu lassen, nur um darin zu lesen. Und das zu einer Zeit, wo es schon Schneider gab, welche auf die Jagd gehen und täglich zu Pferde sitzen, so eng verzahnen sich die Übergänge der Kultur ineinander.

Meister Hediger durfte sich aber sehen lassen in seinem wohlaufgeräumten Hinterstübchen. Er sah fast eher einem amerikanischen Squatter, als einem Schneider ähnlich; ein kräftiges und verständiges Gesicht mit starkem Backenbart, von einem mächtigen kahlen Schädel überwölbt, neigte sich über die Zeitung »Der schweizerische Republikaner« und las mit kritischem Ausdruck den Hauptartikel. Von diesem Republikaner standen wenigstens fünfundzwanzig Foliobände, wohlgebunden, in einem kleinen Glasschranke von Nußbaum, und sie enthielten fast nichts, das Hediger seit fünfundzwanzig Jahren nicht mit erlebt und durchgekämpft hatte. Außerdem stand ein »Rotteck« in dem Schranke, eine Schweizergeschichte von Johannes Müller und eine Handvoll politischer Flugschriften und dergleichen; ein geographischer Atlas und ein Mäppchen voll Karikaturen und Pamphlete, die Denkmäler bitter leidenschaftlicher Tage, lagen auf dem untersten Brette. Die Wand des Zimmerchens war geschmückt mit den Bildnissen von Kolumbus, von Zwingli, von Hutten, Washington und Robespierre; denn er verstand keinen Spaß und billigte nachträglich die Schreckenszeit. Außer diesen Welthelden schmückten die Wand noch einige schweizerische Fortschrittsleute mit der beigefügten Handschrift in höchst erbaulichen und weitläufigen Denkschriften, ordentlichen kleinen Aufsätzchen. Am Bücherschrank aber lehnte eine gut im Stand erhaltene, blanke Ordonnanzflinte, behängt mit einem kurzen Seitengewehr und einer Patrontasche, worin zu jeder Zeit dreißig scharfe Patronen steckten. Das war sein Jagdgewehr, womit er nicht auf Hasen und Rebhühner, sondern auf Aristokraten und Jesuiten, auf Verfassungsbrecher und Volksverräter Jagd machte. Bis jetzt hatte ihn ein freundlicher Stern bewahrt, daß er noch kein Blut vergossen, aus Mangel an Gelegenheit; dennoch hatte er die Flinte schon mehr als einmal ergriffen und war damit auf den Platz geeilt, da es noch die Zeit der Putsche war, und das Gewehr mußte unverrückt zwischen Bett und Schrank stehen bleiben; »denn«, pflegte er zu sagen, »keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen, was es gibt!«

Als der wackere Meister mitten in seinem Artikel vertieft war, bald zustimmend nickte und bald den Kopf schüttelte, trat sein jüngster Sohn Karl herein, ein angehender Beamter auf einer Regierungskanzlei. »Was gibt's?« fragte er barsch; denn er liebte nicht in seinem Stübchen gestört zu werden. Karl fragte, etwas unsicher über den Erfolg seiner Bitte, ob er des Vaters Gewehr und Patronentasche für den Nachmittag haben könne, da er auf den Drillplatz gehen müsse.

»Keine Rede, wird nichts daraus!« sagte Hediger kurz. »Und warum denn nicht? Ich werde ja nichts daran verderben!« fuhr der Sohn kleinlaut fort und doch beharrlich, weil er durchaus ein Gewehr haben mußte, wenn er nicht in den Arrest spazieren wollte. Allein der Alte versetzte nur um so lauter: »Wird nichts daraus! Ich muß mich nur wundern über die Beharrlichkeit meiner Herren Söhne, die doch in andern Dingen so unbeharrlich sind, daß keiner von allen bei dem Berufe blieb, den ich ihn nach freier Wahl habe lernen lassen! Du weißt, daß deine drei älteren Brüder der Reihe nach, so wie sie zu exerzieren anfangen mußten, das Gewehr haben wollten und daß es keiner bekommen hat! Und doch kommst du nun auch noch angeschlichen! Du hast deinen schönen Verdienst, für niemand zu sorgen - schaff dir deine Waffen an, wie es einem Ehrenmanne geziemt! Dies Gewehr kommt nicht von der Stelle, außer wenn ich es selbst brauche!«

»Aber es ist ja nur für einige Male! Ich werde doch nicht ein Infanteriegewehr kaufen sollen, da ich nachher doch zu den Scharfschützen gehen und mir einen Stutzen zutun werde!« - »Scharfschützen! Auch schön! Woher erklärst du dir nur die Notwendigkeit, zu den Scharfschützen zu gehen, da du noch nie eine Kugel abgefeuert hast? Zu meiner Zeit mußte einer schon tüchtig Pulver verbrannt haben, eh' er sich dazu melden durfte; jetzt wird man auf Geratwohl Schütz, und Kerle stecken in dem grünen Rock, welche keine Katze vom Dach schießen, dafür aber freilich Zigarren rauchen und Halbherren sind! Geht mich nichts an!« - »Ei,« sagte der Junge fast weinerlich, »so gebt es mir nur dies eine Mal; ich werde morgen für ein anderes sorgen, heut kann ich unmöglich mehr!«

»Ich gebe«, versetzte der Meister, »meine Waffe niemand, der nicht damit umgehen kann; wenn du regelrecht das Schloß dieser Flinte abnehmen und auseinander legen kannst, so magst du sie nehmen, sonst aber bleibt sie hier!« Und er suchte aus einer Lade einen Schraubenzieher hervor, gab ihn dem Sohn und wies ihm die Flinte an. Der versuchte in der Verzweiflung sein Heil und begann die Schloßschrauben loszumachen. Der Vater schaute ihm spöttisch zu; es dauerte nicht lange, so rief er: »Laß mir den Schraubenzieher nicht so ausglitschen, du verdirbst mir die ganze Geschichte! Mach die Schrauben eine nach der andern halb los und dann erst ganz, so geht's leichter! So, endlich!« Nun hielt Karl das Schloß in der Hand, wußte aber nichts mehr damit anzufangen und legte es seufzend hin, sich im Geiste schon im Strafkämmerchen sehend. Der alte Hediger aber, einmal im Eifer, nahm jetzt das Schloß, dem Sohn eine Lektion zu halten, indem er es erklärend auseinandernahm.

»Siehst du,« sagte er, »zuerst nimmst du die Schlagfeder weg mittels dieses Federhakens - auf diese Weise; dann kommt die Stangenfederschraube, die schraubt man nur halb aus, schlägt so auf die Stangenfeder, daß der Stift hier aus dem Loch geht; jetzt nimmst du die Schraube ganz weg. Jetzt die Stangenfeder, dann die Stangenschraube, die Stange; jetzo die Studelschraube und hier die Studel; ferner die Nußschraube, den Hahn und endlich die Nuß; dies ist die Nuß! Reiche mir das Klauenfett aus dem Schränklein dort, ich will die Schrauben gleich ein bißchen einschmieren!«

Er hatte die benannten Gegenstände alle auf das Zeitungsblatt gelegt, Karl sah ihm eifrig zu, reichte ihm auch das Fläschchen und meinte, das Wetter habe sich günstig geändert. Als aber sein Vater die Bestandteile des Schlosses abgewischt und mit dem Öle frisch befeuchtet hatte, setzte er sie nicht wieder zusammen, sondern warf sie in den Deckel einer kleinen Schachtel durcheinander und sagte: »Nun, wir wollen das Ding am Abend wieder einrichten; jetzt will ich die Zeitung fertig lesen!«

Getäuscht und wild ging Karl hinaus, sein Leid der Mutter zu klagen; er fühlte einen gewaltigen Respekt vor der öffentlichen Macht, in deren Schule er nun ging als Rekrut. Seit er der Schule entwachsen, war er nicht mehr bestraft worden, und auch dort in den letzten Jahren nicht mehr; nun sollte das Ding auf einer höheren Stufe wieder angehen, bloß weil er sich auf des Vaters Gewehr verlassen hatte.

Die Mutter sagte: »Der Vater hat eigentlich ganz recht! Alle vier Buben habt ihr einen besseren Erwerb, als er selbst, und das vermöge der Erziehung, die er euch gegeben hat; aber nicht nur braucht ihr den letzten Heller für euch selbst, sondern ihr kommt immer noch den Alten zu plagen mit Entlehnen von allen möglichen Dingen: schwarzer Frack, Perspektiv, Reißzeug, Rasiermesser, Hut, Flinte und Säbel; was er sich sorglich in Ordnung hält, das holt ihr ihm weg und bringt es verdorben zurück. Es ist, als ob ihr das ganze Jahr nur studiertet, was man noch von ihm entlehnen könne; er hingegen verlangt nie etwas von euch, obgleich ihr das Leben und alles ihm zu danken habt. Ich will dir für heut noch einmal helfen!«

Sie ging hierauf zum Meister Hediger hinein und sagte: »Lieber Mann, ich habe vergessen, dir zu sagen, daß der Zimmermeister Frymann hat berichten lassen, die Siebenmännergesellschaft komme heut zusammen und es seien Verhandlungen, ich glaube etwas Politisches!« - »So?« sagte er sogleich angenehm erregt, stand auf und ging hin und her; »es nimmt mich wunder, daß Frymann nicht selbst gekommen ist, um vorläufig mit mir zu reden, Rücksprache zu nehmen?« Nach einigen Minuten kleidete er sich rasch an, setzte den Hut auf und entfernte sich mit den Worten: »Frau, ich gehe gleich jetzt fort, ich muß wissen, was es gibt! Bin auch dieses Frühjahr noch keinen Tritt im Freien gewesen, und heut ist's so schön! Also adieu denn!«

»So! nun kommt er vor zehn nachts nicht mehr!« lachte Frau Hediger und forderte Karl auf, das Gewehr zu nehmen, Sorg' zu tragen, und es rechtzeitig wieder zu bringen. »Ja nehmen!« klagte der Sohn, »er hat ja das Schloß auseinander getan, ich kann es nicht herstellen.« - »So kann ich es!« rief die Mutter und ging mit dem Sohn in das Stübchen. Sie kippte den Deckel um, in welchem das zerlegte Schloß lag, las die Federn und Schrauben auseinander und begann sehr gewandt sie zusammenzufügen.

»Wo zum Teufel habt Ihr das gelernt, Mutter?« rief Karl ganz verblüfft. »Das hab' ich gelernt«, sagte sie, »in meinem väterlichen Hause! Dort hatten der Vater und meine sieben Brüder mich abgerichtet, ihnen ihre sämtlichen Büchsen und Gewehre zu putzen, wenn sie geschossen hatten. Ich tat es oft unter Tränen, aber am Ende konnte ich mit dem Zeug umgehen wie ein Büchsenmachergesell. Auch hieß man mich im Dorfe nur die Büchsenschmiedin, und ich hatte fast immer schwarze Hände und einen schwarzen Nasenzipfel. Die Brüder verschossen und verjubelten Haus und Hof, so daß ich armes Kind froh sein mußte, daß mich der Schneider, dein Vater, geheiratet hat.«

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