Samstag, 5. Juni 2010
Die Militärbezirke werden abgeschafft
Die Beobachtung der im Herbst 2008 begonnenen, großangelegten Militärreform in der Rußländischen Föderation ist hier auf Backyard Safari bis dato zu kurz gekommen. Aber es läßt sich jetzt schon sagen, daß diese Reform – im Gegensatz zu vorherigen Versuchen – tatsächlich ins Werk gesetzt wird und so die russischen Streitkräfte vollständig umkrempelt. Die bisherigen Strukturen, die großteils noch auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges zurückgehen, wurden und werden durch andere abgelöst. Waren sie bisher auf ein Millionenheer und großangelegte Operationen ausgerichtet, so werden sie nicht nur quantitativ reduziert, sondern komplett umgebaut, um den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Einer der politischen Auslöser waren die in der Vergangenheit sowohl 1999/2000 in Tschetschenien als auch 2008 in Südossetien gemachten Erfahrungen, daß die RF, obwohl sie nominell über eine große Armee verfügt, bestenfalls fähig ist, etwa 65.000 Mann tatsächlich ins Feld zu führen. Der Rest des Personals hat sich selbst oder irgendwelche Depots bewacht, Radar- und (mangelhafte) Funkstationen bedient o.ä. Ziel waren also effizientere und effektivere Streitkräfte.
Einige der wichtigsten Eckpunkte der Militärreform sind:
1. Auflösung aller Mobilmachungstruppenteile, die nur zu 30 bis 50 % mit Personal aufgefüllt waren, aber bereits in Friedenszeiten über den vollständigen Offiziersbestand verfügten. Hier werden auch die meisten der insgesamt rund 200.000 abgebauten Offiziere eingespart. Die russische Armee wird somit nur noch über vollaktive Einheiten verfügen.
2. Drastische Reduzierung des Personals, das im Verteidigungsministerium, im Generalstab und in anderen Militärbehörden tätig ist sowie die Auslagerung und Privatisierung von Dienstleistungen (ähnlich der deutschen Bundeswehr). Insgesamt wird der Personalbestand von 1,2 auf 1 Million Mann reduziert, davon knapp 300.000 in den Landstreitkräften.
3. Umbau der Landstreitkräfte durch Verzicht auf die als schwerfällig geltenden Regiments- und Divisionsstrukturen. Statt dessen wurden „Allgemeine Brigaden“ (russ.: Obschtschewojskowye brigady) geschaffen, die mit ihren Motorisierten Schützen- und Panzerbataillonen das Rückgrat des Heeres bilden. Derzeit existieren 39 Allgemeine Brigaden. Deren Anzahl könnte sich irgendwann noch bis auf die angedachte Zahl von 85 erhöhen (wenn die Reste der alten Armeestruktur aufgelöst sind), doch zunächst muß die genaue Organisation der Brigaden festgeschrieben werden. Insofern werden zur Zeit verschiedene Modelle diskutiert.
4. Die Fliegerkräfte sämtlicher Waffengattungen und Teilstreitkräfte (mit Ausnahme der Strategischen Raketentruppen) sind in die Luftstreitkräfte überführt worden.
5. Dazu kamen noch zahlreiche weitere Maßnahmen, z.B. die Reduzierung des Grundwehrdienstes auf 12 Monate im Jahre 2008, Änderungen in der Offiziersausbildung, Gründung eines bisher nicht gekannten Unteroffizierskorps, das nicht mehr aus besonders guten Wehrpflichtigen, sondern nur noch aus Berufs- und Zeitsoldaten besteht u.v.a.m.
Das in aller Kürze. Einen guten Überblick über die Reform bieten in deutscher Sprache dieser Artikel von RIA Nowosti, dieser Beitrag von Frank Preiß sowie der Beitrag „Mehr als ein neuer 'Look'“ in der Frankfurter Allgemeinen vom 02.12.2009. (Sonst ist die Rußlandberichterstattung der FAZ eher mit Vorsicht zu genießen, wenn etwa behauptet wird, daß Moskau die Schwelle für den Atomwaffeneinsatz senken werde, um leichter damit „drohen“ zu können. Dem ist jedoch nicht so, die neue Militärdoktrin sagt etwas gegenteiliges.)
Viele weitere, wichtige Informationen sind diesem und jenem Weblog zu entnehmen. Da die Ähnlichkeit zu der schon vor Jahren in Belarus erfolgreich durchgeführten Militärreform unverkennbar ist, möchte ich ergänzend noch auf diese Arbeiten über die weißrussische Armee hinweisen.
Die bereits vollzogenen Reformschritte haben keinen Bereich der russischen Armee unberührt gelassen und sie entsprechend durcheinandergeschüttelt – die Ergebnisse der im vergangenen Jahr durchgeführten Manöver waren entsprechend negativ. Die öffentliche Kritik an Verteidigungsminister Anatolij Serdjukow ist heftig (und nur selten höflich formuliert) und es dürfte noch einige Jahre dauern, bis sich die erwarteten positiven Folgen zeigen.
Die Reform scheint langsam zum Dauerzustand zu werden (wofür man in der Bundeswehr den Begriff Transformation verwendet). Dieser Tage ist bekannt geworden, daß es auch den traditionellen Militärbezirken, in denen die gesamte Armee mit Ausnahme der Marine organisiert ist, an den Kragen gehen wird. Das System der Militärbezirke (MB), wie es bis heute existiert, geht auf einen Befehl von Leo Trotzki aus den Anfangsjahren der Sowjetmacht zurück, der wiederum auf Vorläufer aus der Zarenzeit aufbauen konnte. Die Militärbezirke waren nicht nur eine militärische Verwaltungsorganisation, sondern bildeten zugleich im Kriegsfall die operative und teilstreitkraftübergreifende „Front“.
Die derzeit existierenden sechs Militärbezirke sollen nun zum Jahresende aufgelöst werden. Statt dessen werden vier „Operativ-strategische Kommandos“ (OSK) gebildet, denen wahrscheinlich sämtliche nicht-strategischen Verbände der Land-, Luft- und Seestreitkräfte unterstellt werden. Die Idee solcher „joint commands“ stammt natürlich aus den USA. In der sowjetischen bzw. russischen Militärgeschichte gab es derartige Kommandos lediglich im Rahmen des Warschauer Vertrages, z.B. das Kommando des westlichen Kriegsschauplatzes. Das waren aber ganz andere Größenordnungen als heute, wo es primär um flachere Hierarchien und weniger „Verwaltung der Verwaltung“ geht, welche kosten- und zeitintensiv ist. Während der zurückliegenden 15 Jahre wurde in russischen Militärkreisen unter dem Stichwort „strategische Richtungen“ mehrfach über Alternativen zu diesem System, das nur bei einem riesigen Multimillionenheer effizient ist, nachgedacht, aber nichts davon realisiert (sofern man von einem kurzzeitigen Experiment im Fernen Osten absieht).
Die neuen OSKs werden im folgenden kurz vorgestellt. (Als Grundlage diente mir primär dieser Artikel des Militäranalysten Alexander Chramtschichin vom 21.05.2010. Chramtschichin ist am [privaten] Institut für politische und militärische Analyse tätig und stand der ehemaligen [liberalen] Partei SPS nahe. Seine Texte, die bisweilen auch von RIA Nowosti übersetzt werden, sind von großer Nüchternheit geprägt und kommen ohne ideologische Nebelkerzen aus. Die nachfolgend gezeigten Karten stammen aus dem Jahr 2006 und stellen die noch bestehenden Militärbezirke, aus denen die OSKs gebildet werden, sowie die in diesen zum damaligen Zeitpunkt – also noch vor Beginn der Militärreform! – dislozierten Einheiten und Verbände dar. Die [noch] aktuellen Gliederungen können den verlinkten Wikipedia-Seiten der MBs entnommen werden.)
Operativ-strategisches Kommando West
Hauptquartier: Sankt Petersburg. Es wird aus den Land- und Luftstreitkräften des Moskauer Militärbezirks und des Leningrader Militärbezirks gebildet; außerdem werden ihm die Baltische Flotte und die Nordmeerflotte sowie die im Kaliningrader Gebiet stationierten Verbände unterstellt. Das OSK West wird somit – nach heutigem Stand – über folgende Kräfte und Mittel verfügen:
Landstreitkräfte: 9 Allgemeine Brigaden (2 Panzer- und 7 Mot. Schützenbrigaden; dazu kommen noch 2 Marineinfanteriebrigaden bei den beiden Flotten), 6 Raketen- bzw. Artilleriebrigaden, 2 Flugabwehrbrigaden, 5 Basen für die Aufbewahrung von Kampftechnik (für den Mobilmachungsfall).
Luftstreitkräfte/Luftverteidigung: 21 Fliegerbasen (es gibt keine Fliegerregimenter mehr), 2 Flugabwehrbrigaden und 20 Flugabwehrregimenter.
Seestreitkräfte: vgl. hier und hier.
Das alles verteilt sich auf einen geographischen Raum, der von Murmansk und Archangelsk im Norden über Belgorod im Südwesten bis nach Nishnij Nowgorod im Osten reicht und an folgende Staaten grenzt: Norwegen, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Belarus (mit dem die RF im Rahmen der OVKS kooperiert), Ukraine sowie Polen (Exklave Kaliningrad). Das sind außerdem die mit am dichtesten besiedelten Gebiete der RF, worin mit Moskau, St. Petersburg und Nishnij Nowgorod auch drei Millionenstädte liegen.
Chramtschichin meint, nachdem er ausführlich Zahlen miteinander verglichen hat, daß diese Kräftegruppierung in etwa der polnischen Armee entspreche und in einer (freilich hypothetischen) Auseinandersetzung mit den in Mittel- und Westeuropa stationierten NATO-Streitkräften hoffnungslos unterlegen wäre.
Operativ-strategisches Kommando Ost
Hauptquartier: Chabarowsk. Wird gebildet aus dem Fernöstlichen Militärbezirk, dem östlichen Teil des Sibirischen Militärbezirks und der Pazifikflotte. Ihm stünden wohl folgende Kräfte und Mittel zur Verfügung:
Landstreitkräfte: 10 Allgemeine Brigaden (1 Panzer- und 9 Mot. Schützenbrigaden; plus 1 Marineinfanteriebrigade der Pazifikflotte), 1 MG-/Artilleriedivision (Küstenverteidigung), 9 Artillerie- bzw. Raketenbrigaden, 4 Flugabwehrbrigaden, 12 Basen für die Aufbewahrung von Kampftechnik.
Luftstreitkräfte/Luftverteidigung: 13 Fliegerbasen, 8 Flugabwehrregimenter.
Seestreitkräfte: vgl. hier.
Chramtschichin stellt an dieser Stelle ebenfalls Vergleiche mit den Streitkräften der Nachbarstaaten Japan und China an und konstatiert auch für das OSK Ost eine eindeutige Unterlegenheit Rußlands. Die Mobilmachungsbasen liegen relativ nahe an der Grenze, weshalb sie im Zweifelsfall eher einem eventuellen Gegner als der russischen Armee helfen dürften. Zudem sei die für die Logistik existentiell wichtige Transsibirische Eisenbahn ungeschützt und könne wegen ihrer grenznahen Lage leicht durch Luftschläge oder Kommandounternehmen unterbrochen werden.
Ähnliches gilt für das in Chabarowsk residierende Hauptquartier des OSK Ost. Die Stadt liegt am Amur nahe der Grenze zu China und wäre somit – ebenso wie St. Petersburg im Westen – im Falle eines großen Krieges kaum zu schützen.
Operativ-strategisches Kommando Süd
Hauptquartier: Rostow am Don. Es wird aus dem Nordkaukasischen Militärbezirk, den südlichen Teilen des Wolga-Ural-Militärbezirks, der Schwarzmeerflotte und der Kaspischen Flottille gebildet.
Das Hauptaufgabengebiet dieses OSK liegt naturgemäß in Kaukasusraum. Dazu kommt die Unterstützung verbündeter Staaten wie etwa Armenien, wo derzeit zwei Mot. Schützenbrigaden sowie Fliegerkräfte stationiert sind. Die genaue Zusammenstellung der Kräfte und Mittel ist aufgrund der noch unklaren Aufteilung des Wolga-Ural-MB bisher nicht bekannt, doch wird das OSK Süd zumindest die Verbände des heutigen Nordkaukasischen MB verfügen, die im Bereich der Landstreitkräfte u.a. wären: 10 Allgemeine Brigaden (Mot. Schützen, inkl. der in Armenien), 4 Artillerie- bzw. Raketenbrigaden.
Operativ-strategisches Kommando Mitte
(Wird in manchen Quellen auch als OSK Nord bezeichnet.) Hauptquartier: Jekaterinburg. Es wird aus dem westlichen Teil des Sibirischen Militärbezirks und dem größten Teil des Wolga-Ural-Militärbezirks gebildet und verfügt aus geographischen Gründen als einziges OSK über keine unterstellten Seestreitkräfte.
Das Gebiet des OSK Mitte grenzt lediglich an Kasachstan, mit dem Rußland im Rahmen der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) sowie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) eng kooperiert. Mithin besteht die Hauptaufgabe des OSK Mitte im Bereitstellen von Kräften und Mitteln als Reserve für die drei übrigen OSKs sowie ggf. für die anderen Mitgliedsstaaten von OVKS und SOZ. Hierfür könnten u.a. 6 Allgemeine Brigaden des Heeres zur Verfügung. Weitergehende Details sind auch hier noch unbekannt.
So viel für den Moment. Die Überlegungen hinsichtlich der OSKs sind noch nicht abgeschlossen. So muß beispielsweise noch entschieden werden, ob und, wenn ja, inwieweit die strategischen Truppen (Strategische Raketentruppen, Fernfliegerkräfte, SLBM-tragende U-Boote) den neuen Kommandos unterstellt werden.
Dennoch zeigt sich hier die Intensität, mit der die politische Führung der RF gewillt ist, innerhalb des Militärs alte Zöpfe abzuschneiden – auch gegen erheblichen Widerstand in der veröffentlichten Meinung, deren Kommentatoren manchmal wohl in den Denkmustern des Jahres 1944 befangen bleiben und von gewaltigen Panzerschlachten wie einstmals am Kursker Bogen (alb-)träumen. (Damit soll natürlich nicht gesagt werden, daß jegliche Kritik an der Militärreform und ihrer Umsetzung unsachlich oder gar unredlich sei!) Es bleibt abzuwarten, inwieweit das OSK-Konzept erfolgreich sein wird. Demnächst wird es bei der im Fernen Osten stattfindenden Großübung „Wostok-2010“ erprobt. Vieles hängt auch davon ab, wie gut die neuen Systeme zur automatisierten Truppenführung funktionieren werden.
Die umfassenden Veränderungen an Haupt und Gliedern führen in den rußländischen Streitkräften stellenweise zu einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. So haben beispielsweise die Luftlandetruppen bisher noch keine Brigadestruktur eingenommen, sondern gliedern sich nach wie vor in 3 Divisionen sowie diverse selbständige Brigaden, Regimenter und Bataillone, die sich in unterschiedlichen Unterstellungsverhältnissen befinden. Ich vermute, daß in ein oder zwei Jahren, wenn sich die neuen Strukturen in der übrigen Armee „eingeschliffen“ haben, auch hier ein großer Umbau, der mit deutlichen Reduzierungen verbunden ist, einsetzen wird.
Ähnliches gilt für die Aufklärungstruppen der Spetsnaz. Bereits 2009 wurden sie dem Generalstab „weggenommen“ und direkt den Militärbezirken unterstellt. Zudem wurden mehrere Spetsnaz-Einheiten aufgelöst – eine Maßnahme, die ebenfalls viel öffentliche Entrüstung hervorgerufen hat. Vermutlich werden die Spezialkräfte, sobald sich die vier OSKs formiert haben, ebenfalls umstrukturiert und an die neue Führungsorganisation angepaßt.
PS: Weitere Aussagen Alexander Chramtschichins sind auch in deutscher Sprache verfügbar, siehe z.B. hier, hier und hier.
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Fotos: www.mil.ru.
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