Sonntag, 7. Februar 2010

Neue Geschichtsbilder

Heute sollen drei von ihrem Charakter her sehr unterschiedliche Bücher vorgestellt werden, die ich während der letzten Monate gelesen habe und die ein gemeinsames Thema verbindet: der Zweite Weltkrieg und die Stalin-Ära – und wie sie heute, im nachkommunistischen Rußland erinnert werden.

Zunächst ein Roman aus der Feder Georgij Wladimows: „Der General und seine Armee“ (München 1997). Dieses Buch ist zunächst für den Leser nicht ganz leicht zugänglich, doch dann breitet sich eine spannende und einfühlsame Erzählung aus. Der Held des Buches, ein General der Roten Armee, hat so ziemlich alle Höhen und Tiefen durchlebt, die es für ihn geben konnte. Erst Aufstieg als fähiger Offizier, dann in die Fänge der Säuberungen geraten und inhaftiert – lediglich der Kriegsbeginn am 22. Juni 1941 rettet ihn vor dem Exekutionskommando. Daraufhin wieder als Kommandeur eingesetzt, macht er den Rückzug und die Winterschlacht vor Moskau mit und wird dort schwer verwundet. 1943/44, während des Vormarsches, ist er in der Ukraine eingesetzt, verkracht sich dabei mit den maßgeblichen Teilen der Frontnomenklatura (einschließlich Chruschtschow) und wird schließlich nach Hause beordert.

Der Roman ist sehr dicht geschrieben, wobei – für den Leser nicht immer ganz leicht zu durchschauen – verschiedene Zeitebenen miteinander verwoben werden. Inhaltlich spiegelt er die ganze Tragik und die seelischen Verwüstungen des 2. WK aus der heutigen russischen Sicht wieder: die Einsicht, daß auch der eigene Staatschef ein Verbrecher ist, die Nationalitätenkonflikte innerhalb der UdSSR (mit zwei Georgiern – Stalin und Berija – im Zentrum der Macht), die Bewertung des Generals Wlassow und jener Soldaten, die ihm in die Russische Befreiungsarmee (ROA) gefolgt sind, das Verhältnis zwischen den Sowjetbürgern, die Intrigen und Ränke innerhalb der Elite usw. usf.

In diesem Buch gibt es kein einfaches Gut und Böse, weiß und schwarz, hingegen werden sehr viele Grautöne sichtbar – so, wie das Leben nun einmal ist. Doch der Autor setzt ganz bewußt Akzente, die sich von dem gängigen sowjetischen Geschichtsbild unterscheiden und so einen Kontrapunkt zu den überkommenen Vorstellungen setzen – ohne dabei allerdings in den Fehler zu verfallen, die ideologischen Vorzeichen einfach umzukehren.
Nicht ganz einfach zu lesen, aber dennoch gut und (ich muß gestehen) ergreifend.

Der zweite Titel – „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ (Berlin 2004) von Swetlana Alexijewitsch – ist in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung zu verorten und ergänzt den Ausstellungsband des Museums Karlshorst hervorragend. Die Autorin hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Berichte von weiblichen Soldaten der Roten Armee zu sammeln und aufzubereiten. Das ist ihr im großen und ganzen auch gelungen, doch ich bin – mit gutem Grund – gegenüber einem solchen reinen „Oral History“-Ansatz skeptisch, insbesondere wenn mehr Wert auf die Vermittlung von Gefühlen als auf eine korrekte Darstellung der Fakten gelegt wird. Daher sollte das Buch als Baustein und keineswegs als Gesamtgeschichte betrachtet werden, denn dafür ist es zu subjektiv. Letzteres gibt die Autorin auch unumwunden zu, wenn sie ausführt, daß sie die weibliche Geschichte des Krieges schreiben wolle. Abgesehen von dieser methodischen Kritik zeigt sich auch bei Alexijewitsch eine erfreuliche Abkehr von den sterilen und unpersönlichen Heldenmythen der Sowjetzeit.

Die beiden soeben genannten Bücher hätten ohne eine grundstürzende Veränderungen in der sowjetischen und russischen Geschichtsschreibung nicht entstehen können. Ich meine damit den gegen die tradierten sowjetischen Geschichtsbilder gerichteten Revisionismus. Mitte der 1980er Jahre begann die öffentliche Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Stalin-Ära und seither gibt es keine Fragestellung, vor der russische Historiker zurückschrecken würden (z.B. die Präventivkriegsthese für das Jahr 1941 oder die Opfer des Archipel Gulag).

Eine erste Dokumentation dieses Revisionismus in der Geschichtswissenschaft hat 1998 Wolfgang Strauss unter dem Titel „Unternehmen Barbarossa und der russische Historikerstreit“ vorgelegt.
Vieles von dem dort geschriebenen ist aufgrund unserer schnellebigen Zeit heute nur noch von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse. Wichtig und m.E. bis heute zutreffend sind jedoch die von Strauss skizzierten Unterschiede der rußländischen im Vergleich zur deutschen „Vergangenheitsbewältigung“. Z.B.:
"[…]

Der russische Revisionismus berücksichtigt die schwer traumatisierten Verfolgungs- und Kriegsopfer, in der Gewißheit, daß das Verzeihen in den Lagern und Schützengräben nicht gestorben ist. Das russische Volk verweigert sich einer Selbstverhöhnung und Selbstverdammung, es will keinen nachträglichen Bürgerkrieg, eine neue „Tschistka“, keine demokratische Entkommunisierung per Ächtungslisten, Publikationsverbote, Tribunale.

Vergangenheitsbewältigung in Rußland kennt keine russophobe Seelenlandschaft. Betroffenheitsfanatiker sucht man vergeblich, Betroffenheitsrituale sind nicht an der Tagesordnung.

[…]" (S. 23 f.)
Ein Beispiel dafür ist etwa der von einer kleinen, aber lautstarken Minderheit kritisierte Versuch, die Bewertung der Geschichte dem Bürger zu überlassen anstatt sie staatlicherseits vorzugeben.
Auch im Schlußwort hat der Autor eine Beobachtung gemacht, die sich mit meinen Erfahrungen – insbesondere hinsichtlich der Außenpolitik der RF – deckt:
"[…]

Vom Internationalismus jeglicher Art, ob kommunistischen oder kapitalistischen Ursprungs, hat das schwergeprüfte russische Volk genug, genug mit Sicherheit für die nächsten 100 Jahre, genug vermutlich für alle Zukunft. Diese Erkenntnis liegt dem Schaffen der Revisionisten Rußlands zugrunde, und sie vereint alle Kontrahenten im „russischen Historikerstreit“." (S. 181 f.)

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