Dienstag, 13. März 2012

Wahlnachlese IV: Wählerbeschimpfung

Die Kundgebung auf dem Neuen Arbat

Die seit Dezember 2011 entstandene und für rußländische Verhältnisse relativ breite Protestbewegung ist zusammengebrochen. Sie ist weder an Polizeiknüppeln oder anderen Maßnahmen des "Regimes" gescheitert, sondern an ihrer eigenen Heterogenität, die den deutlichen Wahlsieg Wladimir Putins am 4. März nicht überlebt hat. Das reale Volk wollte etwas andere als das imaginierte.

Besonders deutlich zeigte sich dies bei der Kundgebung (oder besser: den Kundgebungen) am vergangenen Samstag. Zunächst hatten sich etwa 10.000 Menschen auf dem Neuen Arbat im Zentrum Moskaus versammelt, um die aus ihrer Sicht unfairen Wahlen zu beklagen. Die Veranstalter gaben - wie gewöhnlich - eine weitaus höhere Zahl an und sprachen von 25.000 Teilnehmern. Egal, welche Zahl man für glaubwürdiger hält - es waren sehr wenige dafür, daß in Moskau und Umland 18 Millionen Menschen leben. Ursprünglich war die Demonstration vom 10.03. sogar für 50.000 Teilnehmer angemeldet worden, aus heutiger Sicht eine utopische Zahl.

Dementsprechend zerknirscht waren auch die Wortführer der Opposition. Für die nächste Zeit sind keine neuen Kundgebungen geplant. Der Linksextremist Udalzow hat zwar für den 1. Mai zu einem "Marsch der Millionen" aufgerufen, doch dieses Projekt dürfte sich wohl ebenso als Hirngespinst erweisen wie Nawalnyjs großspurige Ankündigung, im zuende gehenden Winter eine Million Demonstranten auf die Straße zu bringen.

Die Opposition, numerisch ohnehin immer eine Minderheit, ist zerfallen. Während die Hauptkundgebung am Samstag friedlich und ohne Probleme verlief, sonderten sich zwei radikale Gruppen, die mit den "Bürgerlichen" nicht mehr gemeinsame Sache machen wollten, ab und begannen eigene, nicht angemeldete und somit auch nicht genehmigte Demonstrationen. Zunächst verließ eine Gruppe von etwa 100 Nationalisten um den rechtsextremen Dmitrij Djomuschkin den Neuen Arbat und zog mit einer riesigen schwarz-gelb-weißen Flagge durch die Straßen. Sie sähen keinen Sinn in ihrer weiteren Teilnahme an der Demo, so ihr Anführer. Später nahm die Polizei 25 von ihnen vorläufig fest.


Die Kundgebung auf dem Neuen Arbat

Eine zweite Gruppe von rund 60 Personen scharte sich später um Udalzow. Sie wollte zum Puschkinplatz ziehen, um dort eine Kundgebung anzuhalten und Putin aus dem Amt zu jagen. Nachdem Udalzow die Umzäunung des Verteidigungsministeriums erklommen hatte, um eine Ansprache an die "revolutionären Massen" zu halten, griff die Polizei zu und nahm ihn sowie zwei seiner Mitstreiter fest. Damit war auch diese nicht angemeldete Demonstration der Linksaußen-Kräfte beendet.

Der Samstag hat gezeigt, daß die bürgerliche Protestbewegung in ihrer bisherigen Form am Ende ist. Eine Zukunft haben nur noch zwei Gruppen: diejenigen, die bereit sind, konstruktiv in der Politik mitzuarbeiten, und die Radikalen von links und rechts, die womöglich zunehmend zu illegalen Aktionen greifen werden, um die Behörden zu einem (u.U. harten) Durchgreifen zu provozieren. Insoweit hat der Nationalbolschewist Limonow nicht unrecht, als er in einem Interview sagte, daß das Herangehen der "Führer der Bourgeoisie" "kindisch" sei (sofern man eine Revolution wolle). Damit sind wir wieder bei dem schon früher erörterten Hang von Teilen der Opposition zum Bürgerkrieg. Allerdings ist eine solche Methode nur für eine absolute und radikale Minderheit akzeptabel.

Kehren wir noch einmal zurück zur Präsidentenwahl vom 4. März. An die Behauptung, Wladimir Putin habe infolge grober Wahlfälschung gewonnen, glauben nicht einmal mehr seine Gegner. Gewiß, einige von ihnen plärren noch in den Medien herum. Doch wenn man in den Blogs und Foren der Aktivisten liest, dann findet man dort eine große Ernüchterung. Sie mußten zu ihrem Erstaunen feststellen, daß Putin im Volk tatsächlich so beliebt ist. Einige zogen daraus die Schlußfolgerung, daß Straßenproteste sinnlos geworden seien und man stattdessen neue Parteien gründen und sich in diesem Rahmen engagieren müsse.


Kundgebung auf dem Neuen Arbat: Unter den Symbolen der Sowjetunion auf dem Weg zu mehr Demokratie und Freiheit?

Andere hingegen - selbst wenn sie nicht zu den o.g. Radikalen zählen - können ihre Niederlage nur schwer verwinden. Sie beschimpfen die Wähler Putins in übelster Weise: "käufliche Mißgeburten", "Schmarotzer", "Abschaum" und Ausdrücke aus der Fäkalsprache gehören zu den gängigen Formulierungen. Insbesondere Rentner und Angestellte im öffentlichen Sektor sind zu einem neuen Feindbild geworden. Die neue APO, die sich selbstbewußt "kreative Klasse" nennt und stolz darauf ist, sich zugleich ein iPhone, ein iPad und einen Mercedes oder Lexus leisten zu können, sich stilvoll zu kleiden und um die Welt zu reisen, nimmt für sich das Recht in Anspruch, dem Rest des Volkes vorzuschreiben, wen es zu wählen hat. Solche Statements waren auch vor Jahren schon zu hören. Anstatt die Wähler von ihrem eigenen Programm zu überzeugen, sollte den "Armen" das Wahlrecht entzogen werden, da sie angeblich keine "vernünftigen" Entscheidungen treffen könnten.

Das sind die Leute, die in den deutschen Medien als Graswurzelbewegung, Musterdemokraten und Menschenrechtsaktivisten dargestellt werden. Tatsächlich handelt es sich um eine relativ kleine Schicht mit einem gewaltigen Selbstgefühl. Sie seien künftig die herrschende Klasse, sie allein wären die kreativen Köpfe, der "beste Teil des Volkes", das "Gewissen der Nation" und nur von ihnen hänge die weitere wirtschaftliche Entwicklung Rußlands ab. Deshalb sei ihre Meinung auch besonders zu berücksichtigen. Ihre politischen Auffassungen wären "moralischer" und besäßen demzufolge mehr Wert als die anderer Bürger.

Was dieser Teil der Opposition fordert ist mithin gerade keine Demokratie mit einem allgemeinen Wahlrecht, sondern eine Oligarchie - verstanden als unumschränkte Herrschaft der Vermögenden und Intellektuellen über den Rest des Volkes.

Sonach ist jeder "degeneriert", "verrückt" oder (das wurde wirklich gesagt!) aus "minderwertigem genetischen Material", der es sich wagt, eine von der Kleingruppenmeinung abweichende Auffassung zu vertreten. Daraus strömt der gesamte aufgestaute Haß einer kleinen Minderheit, die erstmals zu der schmerzlichen Einsicht gelangte, daß sie in ehrlichen Wahlen unterlegen ist. Der Ökonom Kirill Martynow hat den Katzenjammer der "nicht-systemischen Opposition" treffend beschrieben:
"Die Opposition lebt in einer Märchenwelt und jetzt ist sie in die Realität zurückgekehrt. In dieser märchenhaften Welt existierte das gute und schöne, aber unterdrückte russische Volk, und wartete darauf, befreit zu werden. Wenn sie ein solches Volk nicht vorfindet, dann taugen die Menschen nur noch als Arbeitsvieh und eine dritte Variante gibt es nicht.

[...]"
Diese absonderliche und höchst undemokratische Weltsicht wurde auch durch deutsche Medien verbreitet, die z.T. davon sprachen, daß Putin die "falsche Mehrheit" bekommen habe. Thomas Fasbender hat diese moralinsaure Bigotterie auf folgende Formel gebracht:
"[...]

Wohlgemerkt – Demokratie ist nicht, wenn man wählen darf; Demokratie ist, wenn man richtig wählt.

[...]"

Udalzows Ansprache an seine Gefolgschaft vor dem Verteidigungsministerium

Der Journalist Sergej Stillwalin hat in einem Kommentar die offenkundigen Mängel der neuen Opposition benannt, welche sie für die Durchschnittswähler inakzeptabel mache. Zum einen sind viele Leitfiguren höchst unsympathisch. Sie würden sich wie z.B. Udalzow als Berufsoppositionelle gebärden, niemals lächeln und so niemanden positiv für sich einnehmen. Zudem gleite die Bewegung ins Showbusiness ab, wenn ernsthaft darüber diskutiert werde, ob es eine "oppositionelle Mode" gebe. Und drittens würden sie durch ihre demonstrative Verachtung der Orthodoxie die religiösen Gefühle vieler Bürger verletzen und wären auch deshalb für die Mehrheit nicht wählbar.

Nach den wüsten Beschimpfungen der letzten anderthalb Wochen dürfte es ohnehin unwahrscheinlich sein, daß viele derzeitige Putin-Wähler in den nächsten Jahren zur APO, ihren Kandidaten und Parteien überschwenken. Wer die Mehrheit der Durchschnittsbürger derart vergrault, darf sich über seine Unbeliebtheit nicht wundern.

An dieser Stelle lohnt ein Blick zurück in die Geschichte Rußlands. Nachdem 1905 im Zarenreich erstmals ein Gesamtparlament eingerichtet worden war, zeigte sich, daß viele Liberale und Sozialisten zu einer konstitutionellen Arbeit gar nicht fähig waren. In dem 1911 erschienenen Sammelband "Wechi" (dt.: Wegzeichen) kritisieren mehrere Intellektuelle diese Unfähigkeit ihrer "Genossen". Darin befaßt sich der Jurist Bogdan Kistjakowskij mit dem Rechtsbewußtsein der Intelligenzija, welches er für unterentwickelt hält. Als Beweis zitiert er u.a. aus einem Parteitagsprotokoll der SDAPR von 1903:
"[...]

Wenn das Volk in einer Woge des revolutionären Enthusiasmus ein sehr gutes Parlament wählt - eine Art chambre introuvable -, dann sollten wir es erhalten; gingen die Wahlen allerdings ungünstig aus, so müßten wir es möglichst nicht erst nach zwei Jahren, sondern schon nach zwei Wochen auseinanderjagen.

[...]" (Berdjajew/Schlögel (Hrsg.): Wegzeichen, Frankfurt/M. 1990, S. 231.)
Wie man sieht, hatten die, die vorgaben, das Volk befreien zu wollen, in Rußland schon immer sehr eigenwillige Ansichten. Es lohnt sich, die "Wegzeichen" zur Hand zu nehmen, wenn man die derzeitige Opposition mit all ihren Widersprüchen besser verstehen will.

Doch zurück in die Gegenwart. Die anstehende Vereinfachung des Parteienrechts in der RF hat schon jetzt zu zahlreichen Neugründungen geführt. Künftig muß eine Organisation nur noch 500 Mitglieder haben, um sich als politische Partei registrieren zu lassen. Zum jetzigen Zeitpunkt haben 68 (mehr oder minder) neue Parteien diese Registrierung beantragt. Fragt sich nur, ob dies zu einer weiteren Fragmentierung der politischen Landschaft führen wird. Die Entstehung zahlreicher Kleinstparteien wirkt sich in der Regel nicht gut auf deren Wahlchancen aus. Und wenn sie nicht in den Parlamenten vertreten sind, wird wohl auch in Zukunft die Mär vom bösen Putin dafür herhalten müssen, die Ursachen der eigenen Mißerfolge zu vernebeln.

Die rußländische Innenpolitik der nächsten Monate und Jahre wird spannend, aber mein Instinkt sagt mir, daß es trotz allem Getöse kurz- und mittelfristig keine grundstürzenden Veränderungen geben wird. Und zwar nicht aus böser Absicht, sondern weil die meisten Bürger sie nicht wünschen und weil ein Teil der politischen Akteure - namentlich aus dem "liberalen" bzw. "demokratischen" Spektrum - sich noch im Stadium der Infantilität befindet und erst erwachsen werden muß. Dazu dient die "Schule des zivilsatorischen Prozesses", die das Land seit vier Monaten durchläuft und in dessen Verlauf hoffentlich auch die Heißsporne lernen, sich angemessen zu benehmen. Ein Ort dafür können die Kommunal- und Regionalparlamente sein, die teilweise ebenfalls am 4. März neu gewählt wurden. Dort können die "Nichteinverstandenen" zeigen, daß sie es besser machen.


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Fotos: RIA Nowosti, mn.ru.
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