Mittwoch, 8. Februar 2012

Der Bürgerkrieg in Syrien

Video: "Friedliche Demonstration" der "schutzlosen Zivilbevölkerung" in Syrien.

Dieser Tage steht die Situation in Syrien erneut im Fokus der internationalen Aufmerksamkeit. Dabei könnte die Differenz zwischen dem, was tatsächlich in diesem Land geschieht und dem, was die deutschen Medien daraus machen, kaum größer sein. Wer in der glücklichen Lage ist, ausländische Medien zu konsumieren, reibt sich verwundert die Augen und fragt sich, ob die gleichgeschalteten deutschen Medien wirklich über dasselbe Syrien sprechen wie die Ausländer.

Besondere Aufregung hat der am Samstag gescheiterte Entwurf einer Resolution des UN-Sicherheitsrates hervorgerufen. Zwei Staaten, China und Rußland, hatten ihr Veto gegen einen Antrag eingelegt, in dem u.a. der Rücktritt des syrischen Präsidenten Assad gefordert wurde. "Westliche" Presse und Politiker überschlugen sich daraufhin in moralisierenden Statements. Man habe das syrische Volk verraten, an den Händen Moskaus und Pekings klebe Blut, beide Staaten seien unfähig zu konstruktiver Diplomatie usw. usf. Komischerweise hat sich kaum jemand die Mühe gemacht, die Einwände im Detail zu untersuchen. Das soll nachfolgend geleistet werden - ein Job, den eigentlich die Empfänger meiner Rundfunksteuern bei ARD und ZDF leisten müßten.

Zunächst sieht man in Moskau die Lage in Syrien ganz anders als hierzulande. Während deutsche Zeitungen im Höchstfall schreiben, ein Bürgerkrieg "drohe", steht für die rußländische Regierung fest, daß in Syrien bereits ein Bürgerkrieg tobt. Diese Einschätzung wird durch Meldungen über Attenate auf die Energieversorgung, Anschläge mitten in Damaskus und anderen Städten sowie andere terroristische Operationen, die sich gegen den jetzigen Präsidenten und die ihn stützenden Teile der Bevölkerung richten, untermauert. (Deshalb ist es auch absurd zu behaupten, "das syrische Volk" sei gegen Assad. Es sind vielmehr nur Teile davon.) Spätestens seit im Herbst 2011 eine sog. Syrische Freie Armee gebildet wurde, die vornehmlich aus desertierten Soldaten besteht und über mehrere Zehntausend Mann verfügen soll, kann man redlicherweise nicht umhin, von einem ausgewachsenen Bürgerkrieg zu sprechen. Diese Rebellenstreitkräfte verfügen auch über schwere Waffen und kämpfen gegen die Regierung in Damaskus.

Stellt man diese Fakten in Rechnung, ergibt sich eine andere Einschätzung. Wo in den deutschen Medien fast unisono von heimtückischen Angriffen des bösen Assad-Regimes auf die arme, unbewaffnete und schutzlose Zivilbevölkerung gesprochen wird, tobt in Wahrheit ein blutiger Bürgerkrieg - mit zahlreichen Opfern auf beiden Seiten. Das Blutvergießen geht mitnichten nur von der Regierung aus. Von den bisher 5.000 Toten im Land sollen 2.000 den regierungstreuen Sicherheitskräften angehören. Doch diesen Teil der Wahrheit enthalten uns unsere Journalisten vor. Der Terminus "Bürgerkrieg" wird vermieden, statt dessen sprechen sie von "friedlichen Demonstrationen" oder höchstens von einem "Aufstand", die von "Oppositionellen" oder einer "Demokratiebewegung" getragen würden.

Doch die "Opposition" bleibt seltsam diffus, von deren Militärorganisationen hört man nur wenig, ebenso von ihrer Zusammensetzung und ihren politischen Forderungen. Man muß wieder ausländische Medien konsultieren, um zu erfahren, daß namhafte Teile der Opposition, die sich vornehmlich in der Türkei sammeln und die unverhohlene Unterstützung mehrerer NATO-Staaten genießen, als islamistisch einzustufen sind. Da drängt sich folgende Schlußfolgerung auf: Wenn islamistisch motivierte Selbstmordattentäter Gewaltakte in den USA oder der EU begehen, ist es Terrorismus; tun sie dasselbe in einem anderen Teil der Welt, nennt man es Freiheitskampf.

Sofern die tatsächliche Lage in Syrien berücksichtigt wird, wird auch die Position Moskaus (und Pekings) leicht nachvollziehbar. Während die USA, einige EU-Staaten und die Golfemirate unverhohlen einen "regime change" in Damaskus anstreben (der wahrscheinlich zu einer sunnitischen Dominanz führen würde), wagen sich die rußländische Diplomaten, ganz andere Töne anzuschlagen. Sie plädieren für einen nationalen "innersyrischen Dialogs unter der Ägide der Arabischen Liga". Dabei sollen ohne Vorbehalte die Probleme des Landes erörtert und Lösungen zwischen den Konfliktparteien gefunden werden; es gehe um "die Suche nach Wegen zu einer nationalen Versöhnung". Das klingt ganz anders als die einseitigen Parteinamen in europäischen Hauptstädten und die in Washington erhobene Forderung nach einer weiteren Bewaffnung der Rebellen.

Anfang Februar wurden alle Beteiligten zu Verhandlungen nach Moskau eingeladen. Während Assad erneut seine Gesprächsbereitschaft bekundete, haben sich nur wenige (im Ausland weilende) Oppositionsvertreter dafür ausgesprochen. Die Mehrheit weigert sich jedoch, in Verhandlungen mit der Regierung Assad einzutreten. Und sie werden in ihrer unversöhnlichen Haltung offenkundig aus dem Ausland unterstützt. Während Assad in den letzten Monaten mehrfach politische Reformen angekündigt hat, gab es kein Entgegenkommen der Opposition, ja nicht einmal ernsthaften Gesprächswillen ihrerseits. Wenn also an jemandes Händen Blut kleben sollte, dann an denen der Rebellen, die den Bürgerkrieg rücksichtslos vorantreiben und sich jeder friedlichen, einigermaßen einvernehmlichen Lösung verweigern.

Neben den erheblichen Unterschieden in der Bewertung der Situation in Syrien (wobei die rußländische Position, wie gesehen, schlüssiger ist als die anderer Staaten) gibt es Unterschiede in einer völkerrechtlichen Frage. Der am Wochenende gescheiterte Resolutionsentwurf enthielt eine einseitige Aufforderung zum Rücktritt an Assad. Der Ansatz des Entwurfes war damit nicht nur unausgewogen, sondern nach Auffassung Moskaus und Pekings auch völkerrechtswidrig. Denn gem. Artikel 24 der UN-Charta ist der Sicherheitsrat zuständig für die Wahrung des Welt-Friedens und der internationalen Sicherheit. Dabei muß er sich - was viele deutschen Kommentatoren vergessen - an die in Artikel 2 statuierten Grundsätze halten. In Art. 2 Nr. 7 heißt es:
"Aus dieser Charta kann eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, oder eine Verpflichtung der Mitglieder, solche Angelegenheiten einer Regelung auf Grund dieser Charta zu unterwerfen, nicht abgeleitet werden".
D.h. der Sicherheitsrat ist schon nach seinen Rechtsgrundlagen gerade keine universale Weltregierung, sondern in seinen Kompetenzen beschränkt. Zwar hat sich das Gremium in der Vergangenheit mehrfach mit Bürgerkriegen befaßt, aber immer unter der Prämisse einer ausgewogenen Konfliktregulierung. Für von außen oktroyierte "Regimewechsel" ist er nicht zuständig. Eine solche wurde von den Staaten, welche den Entwurf eingebracht haben, jedoch nicht angestrebt. Statt dessen sollten schnell Fakten geschaffen werden, ein echter innersyrischer Dialog war und ist in manchen Hauptstädten unerwünscht. Nachdem die Bitte des rußländischen Vertreters im Sicherheitsrat, die Abstimmung zu vertagen, um den für den 7. Februar geplanten Besuch von Außenminister Lawrow in Damaskus abzuwarten, abgelehnt worden war, blieb keine andere Lösung als das Veto. Daß in Moskau indes weiter an einer Verhandlungslösung für Syrien gearbeitet wird, zeigen die starken Aktivitäten des Außenministeriums in dieser Angelegenheit.

Das Veto wurde drittens durch den Präzedenzfall in Libyen beeinflußt. Damals hieß es ebenfalls mit weinerlicher Stimme, es tobe kein Bürgerkrieg, sondern der böse Ghaddafi würde seine eigenen Bürger abschlachten. Eine bewußt mehrdeutig formulierte Resolution des Sicherheitsrates, gegen die es kein Veto gab, wurde mißbraucht, um den (völkerrechtlich zweifelhaften) Einsatz ausländischer Truppen gegen die Regierung von Tripolis zu legitimieren. Viele der seinerzeit verbreiteten Propagandalügen sind bereits entlarvt worden, doch danach fragt hierzulande kaum jemand. Ebensowenig interessiert, was in Libyen weiter passiert. Es gibt eben keine Hinwendung zur Demokratie, sondern das Land versinkt in vormodernen Stammes- und Fraktionskämpfen. Doch darüber schweigen die deutschen Medien zumeist, ebenso wie über die gravierenden Menschenrechtsverletzungen der neuen Machthaber. (Vgl. hierzu auch "Libyen: Folter und Mord".) Lieber versuchen sie, daß in Libyen erfolgreich erprobte Modell auf Syrien zu übertragen. Doch dagegen verwahren sich Rußland und China. Außenminister Lawrow hat kürzlich in einem Interview die vorsichtige Haltung seiner Regierung verdeutlicht:
"[...]

We would also be guided by the need to avoid taking sides in a situation of internal conflict.
The international community unfortunately did take sides in Libya and we would never allow the Security Council to authorise anything similar to what happened in Libya. Yes, we condemn strongly the use of force by government forces against civilians, but we can condemn in the same strong way the activities of the armed extremist groups who attack government positions, who attack administration in various provinces of Syria, who attack a police station and who terrorise people telling them not to come to jobs, not to come to hospitals, not to come to shops.

It's impossible to ... when you say that government forces must leave towns, but at the same time you watch BBC, you watch CNN and you see that parts of those towns are taken by the armed opposition, are you realistically expecting that any government in this situation would leave the city and leave it to the armed groups? I don't think so.

So, my point is that the international community must speak one voice. If we want to end violence, irrespective of where it comes from - and that's the language of the Arab League - then all those countries on whose soil various opposition groups are present, they must lean on those groups, we all must lean on the Syrian government and tell them that you must sit down and stop this. You must agree how your country is going to be run.

We would not pre-judge the outcome, whether this would involve the president of Syria living, or whether there would be some other solution, we went through this in Libya when the African Union - the organisation of 50-some countries, to which Libya belongs - introduced a plan under which the fate of Gaddafi would've been decided at the end of the negotiating process as part of the overall package.

It was rejected because some countries outside the African Union said no, no, no, Gaddafi must go before anything else happens, and then we had what we did. The African Union was humiliated, because to throw away an initiative which was aimed at peacefully resolving the crisis just because somebody had some very personal animosities was a mistake, [...]"
Selbstkritik ist nicht die Stärke der deutschen Medien, vor allem nicht wenn sie statt dessen moralisieren können. Und so werden die Zuschauer weiter nach Strich und Faden belogen. Es ist auch meines Erachtens so, wie Frank Haubold schreibt:
"[...]

Wer in der Euphorie der Wendetage des Jahres 1989 prophezeit hätte, dass man zwanzig Jahre später in russischen (!) Medien ein realistischeres Bild von den aktuellen Krisenherden vorfinden würde als in den angeblich freien Medien des Westens, wäre ausgelacht worden – bestenfalls. Heute ist das traurige Realität. Bundesdeutsche Journalisten und Kommentatoren degradieren sich selbst willfährig zu Handlangern der Mächtigen und bereiten das Feld für geplante Kriege. Das ist nicht nur verantwortungslos und feige, sondern legt auch die Axt an einen Grundpfeiler der Demokratie, die nur mit freien Medien und unabhängigem Journalismus existieren kann. Widerstand gegen diese Entwicklung ist nicht zu sehen; häufig wartet man in den bundesdeutschen Redaktionsstuben nicht einmal auf eine Weisung „von oben“, sondern schaltet sich in vorauseilendem Gehorsam selbst gleich.

[...]"
Wohl dem, der Russia Today und andere internationale TV-Sender sehen kann, um dem deutschsprachigen Einheitsbrei zu entfliehen. Dort werden Berichte von beiden Seiten der Front in Syrien gezeigt. Gestern hat ausnahmsweise sogar die ARD in den Tagesthemen Material eines russischen Senders gebracht - um heute ihre monotone Litanei über "Angriffe der Regierungstruppen auf Wohnviertel" fortzusetzen.

Bemerkenswert auch die innerdeutschen Facetten des syrischen Bürgerkrieges. Während heute groß getitelt wurde, daß deutsche Sicherheitsbehörden Agenten syrischer Geheimdienste festgenommen hätten, gingen Berichte über die Stürmung der syrischen Botschaft in Berlin durch Demonstranten unter. So müssen unsere Journalisten nicht mehr darüber nachdenken, ob die Bundesrepublik Deutschland möglicherweise ihre Pflichten aus Artikel 22 des Wiener über diplomatische Beziehungen verletzt hat, dessen Absatz 2 lautet:
"Der Empfangsstaat hat die besondere Pflicht, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Räumlichkeiten der Mission vor jedem Eindringen und jeder Beschädigung zu schützen und um zu verhindern, dass der Friede der Mission gestört oder ihre Würde beeinträchtigt wird."
Nein, die armen Demontranten haben nur ihrer gerechten Empörung Luft gemacht. Wer dagegen etwas sagt, kann doch nur eine kleinkarierte Krämerseele oder, schlimmer, ein Feind aller wohlmeinenden Menschen sein. Um jeden Zweifel beim deutschen Michel zu zerstreuen folgen dann Berichte, wie schlimm doch die "Drangsalierung" der armen "Oppositionellen" durch das "Assad-Regime" selbst im Ausland sei.

Wir dürfen gespannt sein, wie die Entwicklung in Syrein weitergehen wird, nachdem mehrere arabische Staaten, die USA und Teile der EU eine auf Verhandlungen beruhende Konfliktlösung hintertrieben haben und es keine Alternative zu einem "Regimewechsel" zu geben scheint. Selbiger dürfte allerdings noch auf sich warten lassen, denn Assad genießt anscheinend noch erheblichen Rückhalt im Volk. Die Opposition will keinerlei Kompromiß, doch für einen militärischen Sieg über Assad fehlen ihr die Kräfte.


Linktips:

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