Freitag, 5. November 2010

Spannungen im Nordpazifik


In dieser Woche hat der am 1. November stattgefundene Besuch des rußländischen Präsidenten Medwedew auf der Kurilen-Insel Kunaschir ungewöhnliche Kreise gezogen. Es ist hinlänglich bekannt, daß sich viele Japaner bis heute nicht mit dem verlorenen Zweiten Weltkrieg abfinden können und - entgegen den seit 65 Jahren existierenden Realitäten - von einer Rückgewinnung verlorener Gebiete wie den südlichen Kurilen träumen. Der Konflikt um diese Inselgruppe, der freilich nur aus japanischen Ansprüchen besteht, die nicht die geringste Chance auf Erfüllung haben, schwelt seit Jahrzehnten - allerdings hielt und hält er beide Staaten nicht von politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit ab. Man hat bis heute keinen Friedensvertrag geschlossen, doch schon 1956 wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen.

Deshalb war auch mit Kritik aus Tokio zu rechnen, nicht jedoch mit dieser Kette ernsthafter Verstimmungen. Schon im Vorfeld hatte es "Warnungen" der japanischen Regierung gegeben, die am Montag erneut ernste Worte fand. Daraufhin wurde dem japanischen Botschafter in Moskau kundgetan, daß der Präsident der RF innerhalb seines Landes nach Belieben reisen könne. Sodann erfolgte am 2. November die Abberufung des japanischen Botschafters in der RF, offiziell zum Zwecke von Konsultationen mit seiner Regierung. Letzteres ist schon ein sehr starkes diplomatisches Signal - und die japanische Regierung erwägt weitere "Schritte als Antwort auf den Besuch Medwedews", ohne diese jedoch zu benennen.

Man könnte dies für einen isolierten Akt laustarker japanischer Nationalisten halten, die Schwierigkeiten damit haben, die Wirklichkeit hinzunehmen. Vielleicht ist dem auch so und man sollte das Thema nicht überbewerten. Doch zwei weitere Ereignisse der letzten Tage regen zum Nachdenken an, denn durch sie bekommt der Kurilen-Streit möglicherweise eine militärische Dimension.

Erstens die Pressekonferenz des US State Departement vom 02.11.2010 in Washington DC, auf der sich der Pressesprecher Philip Crowley zum Thema äußerte. Seine Einlassungen werden im folgenden mit den dazugehörenden Fragen wiedergegeben:
"[...]

QUESTION: P.J., Russian President Dmitriy Medvedev visited Japanese Northern Territory island, and such a high-level visit is the first time through Soviet Union era. And can I have the United States response, and do you recognize Japanese sovereignty over the islands?

MR. CROWLEY: We are quite aware of the dispute. We do back Japan regarding the Northern Territories. But this is why the United States, for a number of years, has encouraged Japan and Russia to negotiate an actual peace treaty regarding these and other issues.

QUESTION: In terms of Senkaku Island, Secretary Clinton just made it clear that it is within U.S.-Japan security treaty, and that is because the islands are controlled by Japan. And in terms of Northern Territories, where does the United States stand? Is it applied to United States and Japan security treaty, Article 5?

MR. CROWLEY: That’s a good question. I’ll take that question.

[...]"
Das erscheint mir bemerkenswert. Erstens unterstützen die Vereinigten Staaten von Amerika Japan bei seinem Versuch, die Ergebnisse des 2. WK (und mithin auch den Friedensvertrag von San Francisco) zu revidieren. Mit anderen Worten: Washington steht mit Tokio in der Front gegen Moskau.

Zweitens beschränkt sich diese Unterstützung nicht nur auf abstrakte politische Erklärungen, sondern hat auch eine militärische Komponente. Wäre dem nicht so, hätte Crowley die zweite Frage einfach verneinen können. Der in Rede stehende Artikel 5 des in Rede stehenden amerikanisch-japanischen Kooperations- und Sicherheitsvertrages hat folgenden Wortlaut:

"Each Party recognizes that an armed attack against either Party in the territories under the administration of Japan would be dangerous to its own peace and safety and declares that it would act to meet the common danger in accordance with its constitutional provisions and processes. [...]"
Damit stellen sich eine Reihe von (Rechts-)Fragen. Die wichtigste: Betrachtet die US-Regierung die Südkurilen als ein Gebiet, das unter der Verwaltung Japans steht? Und, wenn ja: Worin würde ein bewaffneter Angriff bestehen? Genügt dafür bereits die vorhandene Präsenz der rußländischen Streitkräfte auf den Inseln?

Bedeutender (und verheerender) als die konkrete Beantwortung dieser Fragen ist jedoch das politische Signal, das die amerikanische Regierung damit aussendet. Man könnte es in Tokio als Freibrief für eine aggressivere Politik gegenüber Rußland (miß-)verstehen. Angesichts der gewachsenen militärischen Stärke des Kaiserreichs erscheint selbst ein Feldzug zur "Befreiung" der "nördlichen Territorien" nicht mehr gänzlich abwegig. Denn die japanischen Selbstverteidigungskräfte haben starke Truppenverbände auf der Nordinsel Hokkaido disloziert. Diese Gruppierung besteht aus 2 Divisionen und 2 Brigaden plus Unterstützungseinheiten. Dies ist weitaus mehr, als an russischen Kräften auf den Kurilen (und Sachalin) stationiert ist oder kurzfristig herangeschafft werden könnte. Mit Ausnahme der atomaren Bewaffnung ist die russische Pazifikflotte der japanischen Marine sogar unterlegen. Hinsichtlich der Luftstreitkräfte fällt der Vergleich ähnlich aus.

Somit stellt sich für Japan die Frage nach einer gewaltsamen Lösung der Gebietsansprüche durchaus. Und dies bereitet manchem russischen Experten schlaflose Nächte. Mit dem Manöver "Wostok-2010" hat Rußland zumindest die Absicht dokumentiert, die u.U. verlorengegangenen Inseln zurückzuerobern. Hoffentlich ist dies in Tokio verstanden worden und die japanische Führung hofft nicht auf ein zweites Tsushima, ggf. unter Mithilfe amerikanischer Streitkräfte.

Damit bekommt auch eine zweite Pressemeldung eine größere Bedeutung. Die Luftwaffen mancher Staaten machen sich mittlerweile einen Spaß daraus, die Flüge russischer Militärmaschinen im internationalen Luftraum als Bedrohung aufzufassen und sie "abzufangen". So nicht nur jüngst die Kanadier, sondern auch die Japaner. Passenderweise am 4. November wurde verkündet, daß zwischen dem 01.04. und 30.09.2010 wegen "gefährlicher Annäherung russischer Kampfflugzeuge an die Grenzen Japans" 149-mal japanische Kampfjets aufgestiegen wären.

Neben der üblichen Frage, was denn unter einer "gefährlichen Annäherung" genau zu verstehen ist, stellt sich hier die viel drängendere, wo das japanische Militär die Grenzen seines Landes sieht. Gehören die Kurilen mit dazu? Stellt nach Ansicht Tokios folglich jeder Flug einer rußländischen Maschine über diesen Inseln eine Verletzung oder Bedrohung des japanischen Luftraums dar, auf die militärisch geantwortet werden muß?

Es bleiben also viele offene Fragen. Anscheinend wird die ressourcenreiche Region des nordwestlichen Pazifik alsbald nicht zur Ruhe kommen, was nicht nur auf notorische Störenfriede wie Nordkoreas Kim Jong-il zurückzuführen ist.


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Foto: RIA Nowosti.
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